Zentrum für verfolgte Künste
Zeitzeugin Ruth Weiss regt Debattenkultur an
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98-Jährige erlebte Antisemitismus in Deutschland und Apartheid in Südafrika und berichtete darüber im Zentrum für verfolgte Künste. Sie war für den Friedensnobelpreis nominiert. 160 Besucher kamen.
Von Daniela Neumann
Solingen. Am Sonntag sprach Zeitzeugin Ruth Weiss im Zentrum für verfolgte Künste in Gräfrath. Das Gespräch endete mit einem feinen Dreh. Interviewerin Sylvia Löhrmann fragte ihren 1924 in Fürth geborenen Gast zum Schluss nach einem letzten Rat: „Was wollen Sie uns mitgeben?“ Sie rege zu Debatten und Austausch an, erzählte Weiss – und man habe ihr gesagt, „dass das nicht Sitte sei“ in Schulen in Deutschland: „Stimmt das?“ Und schon hatten die zahlreichen, daraufhin murmelnden Anwesenden einen konkreten Ansatz zum Nachdenken.
Statt angemeldeter gut 30 waren rund 160 Menschen zur Matinee gekommen. Im Zentrum an der Wuppertaler Straße nutzte Förderkreis-Vorsitzende Sylvia Löhrmann die Gelegenheit, mit Schriftstellerin Ruth Weiss einfühlsam über deren bewegtes Leben zu reden. Zwei Tage zuvor hatte Weiss im NRW-Landtag anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gesprochen.
1936 war die heute 98-Jährige als Kind mit ihren engsten Verwandten aus Deutschland geflohen. Zuvor hatte ihr Vater als Jude seinen Job verloren, ihre Schwester war mit Dreck beworfen und beschimpft worden. Darüber berichtete die heutige Autorin wie eine literarische Chronistin. Lebendig wurden ihre früheren Kindheitserinnerungen, als sie vom Leben und gemeinsamen Spielen rund um die Dorfschule erzählte. „Was man mir übelnahm: dass es so viele jüdische Feiertage gab“, sagte Weiss und schmunzelte mit ihrer aktuellen Zuhörerschaft.
Nach der Machtergreifung Hitlers habe sich alles von einem Tag auf den anderen geändert. Niemand habe mehr mit ihr geredet, und sie sei nicht mehr aufgerufen worden.
Ab jetzt gesellte sich in ihren präzisen Ausführungen zu ihren Erinnerungen das Wissen der Journalistin hinzu, die sie nach und nach wurde. Die Liste ihrer prominenten Gesprächsleute ist lang, Willy Brandt ist darunter und Nelson Mandela. In ihrer neuen Heimat Südafrika hat Ruth Weiss nach der Flucht Diskriminierung erneut erlebt – aus anderer Perspektive, hier sieht sie, wie Schwarze mit Apartheidpolitik ausgegrenzt werden. Dagegen schreibt sie an. Und erhält nach einem Auslandsjob Einreiseverbot.
Das finden Interessierte in den vielfältigen Quellen zu ihrem Leben, auf die sowohl Sylvia Löhrmann als auch Bürgermeister Thilo Schnor als Grußwort-Redner hinweisen. Dass Ruth Weiss für den Friedensnobelpreis nominiert war, das Bundesverdienstkreuz erster Klasse trägt und sich ins Gästebuch der Stadt einträgt, erfahren die Anwesenden beim Gespräch in Solingen fast nebenbei. Sowohl Lokalprominenz aus Politik und Gesellschaft als auch Jung wie Alt lauscht den Worten der Frau gebannt, rutscht auf den Sitzen nach vorn, lehnt sich vor.
Etwas Fränkisch tritt ab und an hervor, etwa wenn Ruth Weiss ihre Familie erwähnt, da war eine „einziche“ Cousine, die überlebte. Von der Odyssee der Schwiegereltern erzählt Weiss anschaulich, und wir wissen nun, dass sie heute bei ihrem Sohn in Dänemark lebt. Ihr Roman „Meine Schwester Sara“, mit männlichem Erzähl-Ich, zählte ab 2006 zur Prüfungslektüre an baden-württembergischen Realschulen. Eine Schule ist nach ihr benannt.
Was sie angetrieben habe, fragt Löhrmann. „Tikkun olam“ – ein im Jüdischen integriertes ethisches Verständnis von Weltverbesserung, Heilung der Welt. Oder wie es, Löhrmann weist darauf hin, in „Meine Schwester Sara“ eingangs heißt: „Die Vergangenheit hat eine lange Zukunft.“