Krieg gegen die Ukraine
Warten auf die Prothese – und dann zurück an die Front
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Der ukrainische Soldat Igor hat in Deutschland medizinische Hilfe erhalten, unter anderem im Sanitätshaus Schmiedel – das ST war dabei.
Von Björn Boch
Solingen. Die Schrecken des Krieges verändern Menschen. Physisch und psychisch. Igor aus der Ukraine hat im Krieg gegen Russland ein Bein verloren. Als er Ende 2022 in Solingen eine Prothese erhalten soll – es ist kurz vor Weihnachten – interessiert ihn nur eines: Er will zurück an die Front. Sein Land verteidigen.
Der Krieg hat einen anderen Mann aus ihm gemacht. „Ich dachte früher nie, dass ich jemanden töten könnte. Wenn ich aber an meine Kameraden denke, an die Geretteten und an die Getöteten, bin ich mir sicher: Ich könnte meine Feinde mit bloßen Händen umbringen.“
Igor ist ein starker Mann, durchtrainiert, militärischer Haarschnitt. Seine Geschichte erinnert daran, dass es diesen Krieg sehr viel länger gibt, als wir das im Westen wahrnehmen. Was 2014 mit der Annexion der Krim durch Russland begann, wurde schnell zu einem Krieg im Donbass. Bereits im August 2016 hatte der damalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, Europa um defensive Waffen gebeten.
Seit jenem Jahr kämpft Igor für sein Land. Erst mit einem „Vertrag“, so nennt er es, in der Donbass-Region. Später, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, freiwillig. Wie so viele seiner Landsleute.
Ende April 2022, so schildert es Igor, werden er und seine Mitkämpfer von russischen Panzern beschossen. Irgendwo zwischen den später von Russland annektierten Regionen Donezk und Luhansk und der schwer umkämpften Stadt Charkiw. Sein linkes Bein wird schwer verletzt. Es beginnt eine Odyssee durch militärische und zivile Krankenhäuser, erst in der Ukraine selbst, später dann im Ausland.
Nach vier Operationen sieht es so aus, als könnte das Bein gerettet werden. Eine Sepsis macht die Hoffnung zunichte. Der Unterschenkel muss komplett entfernt werden.
Bei der ersten Anprobe seiner Prothese im Dezember ist das Solinger Tageblatt dabei. Igor ist gut gelaunt. Unter seiner grauen Jacke trägt er ein buntes T-Shirt. Darauf steht: „Guten Abend, wir kommen aus der Ukraine.“ Zu sehen ist ein Traktor, der einen Kampfjet abschleppt. Eine humoristische Anspielung auf den Beginn des Krieges, als mehrere ukrainische Bauern mit ihren Traktoren Panzer und weiteres Kriegsgerät der russischen Armee entwendeten. Immer wieder muss Igor lachen, als er seine Geschichte erzählt. Ein bisschen so, als könne er selbst nicht glauben, was er seit April erlebt und durchlitten hat.
Für die Prothese wünscht sich Igor das Wappen der Ukraine, einen goldenen Dreizack. Ein Wunsch, den Orthopädiemeister Michael Schmiedel vom gleichnamigen Sanitätshaus gerne erfüllt. Anfangs gibt es Unstimmigkeiten über die Prothese, der Patient fürchtet, nicht schnell und wendig genug zu sein mit der – aus medizinischer Sicht besten – Variante.
„Patienten haben oft irrationale Vorstellungen“, sagt Michael Schmiedel. Seine Aufgabe sei es, eine erstklassige Prothese anzufertigen, den Patienten intellektuell wie emotional „einzufangen“ und die technischen Möglichkeiten realistisch aufzuzeigen. „Kein leichter Job, vor allem mit der Sprachbarriere. Mit 45 Jahren Berufserfahrung und Tausenden von durchgeführten Versorgungen aber kein Problem“, so Schmiedel.
Behörden holen erst einmal Vergleichsangebote ein
Der Orthopädiemeister betont, dass er die Prothese nicht fertigt, weil Igor Ukrainer ist und schnell wieder an die Front will. „Wir helfen Menschen. Und die sind uns sehr dankbar, wenn sie wieder auf zwei Beinen durchs Leben gehen können.“ Geld für seine Leistungen erhält Schmiedel vom Stadtdienst Soziales. Zum Zeitpunkt des Termins hatte er eine mündliche Zusage, das reichte ihm. Schnellstmöglich wollte er den Patienten versorgen.
„Wir könnten das in dringenden Fällen in zwei, drei Tagen. Leider bremst uns die Bürokratie oft aus“, berichtet Schmiedel. So habe Igor wochenlang warten müssen, weil Behörden mehrere Vergleichsangebote einholten. „Die sonstigen Kosten, die entstehen, etwa für die medizinische Betreuung in dieser Zeit, werden da gerne vergessen.“
Unterstützung erhält Schmiedel durch seinen Meisterschüler und zwei Auszubildende. Einer kam über seinen Vater, der einen Arm und ein Bein verloren hat, zur Prothetik. Der andere ist Industriemechaniker und war danach in der Altenpflege. Prothesen verbinden nun die Arbeit mit Mensch und Technik.
„Der Sieg kommt. Alles wird gut. Und alles, was Ukraine war, wird wieder Ukraine sein.“
Technische Fortschritte gab es auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten zuhauf. Michael Schmiedel wollte eigentlich einen seiner älteren Patienten – einen deutschen Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg – und den Kämpfer aus der Ukraine zusammenbringen. Auch, um zu zeigen, wie sich das Fachgebiet entwickelt hat. Das war dem Soldaten aus der Ukraine aber nicht ganz geheuer. Igor hat in seiner Heimat viele Rentner kennengelernt, die im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland gekämpft haben. Jetzt, da der Feind aus der anderen Richtung kommt, spielt die Vergangenheit in der Ukraine nur noch eine untergeordnete Rolle.
Auf die Handlungen Deutschlands in der Gegenwart angesprochen, antwortet Igor so diplomatisch wie dankbar. „Alle Partnerländer und Partnerstädte helfen – militärisch, medizinisch, humanitär. Das ist gut.“ Die langanhaltende Debatte, die in der Lieferung von 14 Leopard-Panzern aus NRW in die Ukraine mündet, ist da noch weit weg.
Igors Familie – Frau und Kind, Mutter, Schwestern, Bruder – hat die Ukraine nie verlassen. Sie leben im Westen des Landes, der bislang nicht so schlimm von den russischen Angriffen betroffen war. Einen wirklich sicheren Ort gibt es in der Ukraine schon lange nicht mehr. Auch deswegen will Igor unbedingt zurück. Erst zu seiner Familie, dann an die Front. Für Außenstehende ist das angesichts seiner Geschichte kaum zu begreifen. Er macht aber mehrmals klar, dass es für ihn keine Alternative gibt. Und nie gab.
Woher er die Kraft nimmt? So richtig wisse er das nicht. Er überlegt lange. Und sagt dann: „Der Sieg kommt. Alles wird gut. Und alles, was Ukraine war, wird wieder Ukraine sein.“
Zur Entstehung dieser Geschichte
Sicherheit: Das Tageblatt hat Igor bereits im Dezember getroffen. Aus Sicherheitsgründen erscheint dieser Text erst eine Weile nach seiner Abreise, auch seinen vollen Namen und die Namen einiger anderer Protagonisten nennen wir nicht.
Helfer: Weitere Solinger Helfer und Institutionen, die Igor unterstützt haben, wollten in diesem Text nicht erwähnt werden, teils aus Angst vor Reaktionen von russischen Sympathisanten.
Polizei: Laut Behördensprecher Andreas Reuter sind der Polizei „keine kritischen Sicherheitslagen oder Bedrohungen im bergischen Städtedreieck in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bekannt“.
Verständigung: Igor spricht kein Deutsch und kein Englisch, via Handy war eine Dolmetscherin zugeschaltet. Ein späterer Versuch der Kontaktaufnahme in die Ukraine scheiterte. Wie es ihm heute geht, wissen wir nicht.