Gesellschaft
Interessenkonflikt: Keine Zeit für die Politik?
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Kritiker sehen einen Interessenkonflikt zwischen Ehrenamt und Beruf.
Von Kristin Dowe
Solingen. Zu wenige junge Menschen, zu wenige Frauen, zu wenig Vielfalt – dieses düstere Bild der Kommunalpolitik zeigt sich in vielen Städten und zuweilen auch in den politischen Gremien der Stadt Solingen. Die Parteien beklagen Schwierigkeiten, Nachwuchs für politische Ämter zu gewinnen, und auch Vereine und gemeinnützige Organisationen werben heute intensiver denn je um ehrenamtliche Mitarbeiter. Das sehen viele als Problem. Zwar sind Arbeitgeber verpflichtet, Beschäftigte für bestimmte Ehrenämter in der Politik oder auch bei Feuerwehr oder Rettungsdienst freizustellen, gern gesehen sind ständige Ausfälle in der freien Wirtschaft aber keineswegs, heißt es aus Kreisen der Solinger Politik.
„Mir hat mal jemand den Satz gesagt: ,Teilzeitpolitiker gibt es nicht'“, berichtet etwa SPD-Ratsmitglied Marina Dobbert. Die Solingerin ist bei der Agentur für Arbeit im Arbeitgeber-Service tätig und berät dort Unternehmen zu Personalfragen. „In den Gesprächen äußern Arbeitgeber oft Vorbehalte, Ehrenamtler einzustellen. Das wird allgemein nicht gern gesehen“, so Dobbert.
Zwar werde ihr speziell als Beschäftigte im Öffentlichen Dienst die Freistellung problemlos ermöglicht, doch sei ihr durchaus bewusst, dass dies in anderen Branchen Schwierigkeiten mit sich bringe. „Wie so etwas in einem kleinen Handwerkerbetrieb funktionieren soll, weiß ich nicht.“
Selbst wenn der Arbeitgeber mitspielt, müssten die wegen des Ehrenamts zurückgestellten Aufgaben irgendwann nachgearbeitet werden. „Früher waren die Arbeitgeber stolz darauf, wenn ein Mitarbeiter beispielsweise bei der Feuerwehr aktiv war. Das ist heute längst nicht mehr so.“ Insbesondere in der Politik fördere dies die Entwicklung, „dass Interessen nur noch von Personen vertreten werden, die in ein oder zwei Berufsständen tätig sind“. Wenn die Familienplanung hinzukomme, zögen sich vor allem Frauen oft gänzlich aus der Politik zurück.
„Man wird nicht alles lösen können. Ein Mandat ist ein Mandat.“
Eine Problematik, die der CDU-Ratsfraktionsvorsitzende Daniel Flemm ähnlich schildert. „Diese Entwicklung höhlt unsere Demokratie aus“, befürchtet der Christdemokrat und weiß, wovon er spricht. Ende 2020 kehrte Flemm der freien Wirtschaft den Rücken und bat seine Arbeitgeberin, die Sdui GmbH, deren Finanzleiter er war, um einen Aufhebungsvertrag. Leicht habe er sich diese Entscheidung nicht gemacht und gibt offen zu: „Finanziell war das ein Rückschritt.“ Zwar habe er den Entschluss, sich – abgesehen von einer Tätigkeit als Lehrbeauftragter – vollständig der Politik zu widmen, nie bereut. „Aber ich vermisse die freie Wirtschaft manchmal, da man einfach etwas schneller und vielfältiger arbeiten kann. In der Politik gehört schon viel Idealismus dazu.“
So gingen allein für ein einfaches Ratsmandat zwischen 15 bis 20 Stunden in der Woche drauf, bei einem Fraktionsvorsitz seien es noch einmal deutlich mehr. Um Kommunalpolitik für Einsteiger attraktiv zu machen, hat Flemm konkrete Verbesserungsvorschläge: „Zum einen sollte man versuchen, die Sitzungen zu arbeitnehmerfreundlicheren Zeiten zu terminieren. Zum anderen halte ich es für unnötig, dasselbe Thema in vier Ausschüssen zu beraten, wie es in Solingen oft gemacht wird.“ Ein Angebot der Stadt zur Kinderbetreuung oder Pflege Angehöriger für Menschen in politischer Verantwortung seien weitere Ansatzpunkte. „Wir müssen uns Gedanken machen, was uns unsere Demokratie wert ist.“ Gleichzeitig sei ihm klar: „Man wird nicht alles lösen können. Ein Mandat ist ein Mandat.“
VBU sieht auch Vorteile für Unternehmen
In der Wirtschaft scheint das Thema nicht gerade beliebt zu sein. Auf eine Umfrage unter den Mitgliedsunternehmen der Bergischen Industrie- und Handelskammer (IHK) auf ST-Nachfrage erhielt deren Pressestelle kaum Rücklauf. Doch die Behauptung, dass ehrenamtliche Aktivitäten von Arbeitgebern pauschal abgelehnt werden, hält Prof. Dr. Wolfgang Kleinebrink, Sprecher der Geschäftsführung bei der Vereinigung Bergischer Unternehmerverbände (VBU), dennoch für verfehlt. „Es kommt sicherlich auf die Art und den zeitlichen Umfang des Ehrenamtes an.“
Dabei böte ein soziales Engagement in einigen Fällen den Unternehmen auch Vorteile. So seien beim VBU immerhin 62 ehrenamtliche Richterinnen und Richter aus den Mitgliedsunternehmen bei den Arbeitsgerichten tätig. Dadurch erwürben die Beschäftigten praktische Erfahrungen aus der Rechtsprechung, die sie in ihre Arbeit in den Unternehmen einfließen lassen können. „Die zeitliche Dimension ist sicherlich aber eine ganz andere als bei Politikern“, räumt Kleinebrink ein.
Darüber hinaus könne das Ermöglichen von ehrenamtlichen Aktivitäten auch zu einer positiven Außenwirkung beitragen. „Sind Mitarbeiter Mitglieder bei der Freiwilligen Feuerwehr, zeigt dies indirekt auch das soziale Engagement des Unternehmens.“
Hintergrund
Regelung: Gremienmitglieder der Stadt Solingen werden von ihren Arbeitgebern zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben, insbesondere der Teilnahme an Gremiensitzungen, freigestellt. Dementsprechend wird den Arbeitgebern der Verdienstausfall erstattet, für den die Stadt aufkommen muss. Mandatsträgern mit Gleitzeit wird ein geringerer Betrag ausgezahlt.
Beträge: Die jährlich auszuzahlenden Beträge variieren. Gründe hierfür sind: Gremienmitglieder scheiden aus, werden neu gewählt, nehmen andere Funktionen wahr, ziehen aus Solingen weg oder gehen in Rente. So fielen im Jahr 2022 für zwei Gremienmitglieder 1322,37 Euro an – im Jahr 2018 waren es für fünf Mitglieder 14 276,76 Euro.