Wissenschaft

Cancel Culture: Wie aus gut gemeinter Kritik übertriebene Moral wird

Prof. Dr. Peter Imbusch forscht zur Cancel Culture, aber auch zur Bedrohung von Amtsträgern. Jüngst sprach er so vor dem Remscheider Stadtrat.
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Prof. Dr. Peter Imbusch forscht zur Cancel Culture, aber auch zur Bedrohung von Amtsträgern. Jüngst sprach er so vor dem Remscheider Stadtrat.

Was hinter Cancel Culture steckt und welche Formen es gibt, erklärt Uni-Professor Peter Imbusch.

Von Alexandra Dulinski

Solingen. Ein Verlag zieht die Veröffentlichung eines Winnetou-Romans zurück, Erfolgsautorin Joanne K. Rowling (Harry Potter) wird wegen transfeindlicher Äußerungen kritisiert, in der Nachbarstadt Wuppertal wird die Mohrenapotheke mit einem „Rassismus“-Schriftzug versehen.

Diese Punkte sind Beispiele für sogenannte Cancel Culture – ein Schlagwort, das den sozialen Ausschluss von Personen oder Organisationen beschreibt, denen unter anderem diskriminierende, rassistische oder frauenfeindliche Aussagen vorgeworfen werden. Doch woher kommt dieses Phänomen überhaupt, welche Auswirkungen hat es?

Peter Imbusch, Professor für Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal, weiß, dass das Phänomen in den 2010er-Jahren in den USA und überwiegend im Internet entstanden ist. Genutzt wurde es von politisch linksorientierten Gruppen, ist dann auch in die rechte Szene gewandert. In Deutschland ist es erst seit etwa 2019 zu finden.

„Cancel Culture ist eigentlich ein undefiniertes Konzept, es ist verschwommen“, erklärt der Soziologe. So gebe es zwei Lager der Cancel Culture. Zum einen die Seite derer, die auf Missstände hinweisen wollen. „Das ist wohlgemeinte Kritik, die aber mit einem moralischen Rigorismus vorgetragen wird. Sie ist übertrieben moralisch“, erklärt Imbusch.

Was sind Beispiele für Cancel Culture?

Als Beispiele nennt er Karl Mays Winnetou-Bücher als kulturelle Aneignung („Wie kann jemand es wagen, über Indianer zu schreiben, der selbst keiner ist?“), die Debatte um Mohrenköpfe, Zigeunersoße und die Mohrenapotheke, aber auch das Ballermann-Lied „Layla“, das im vergangenen Jahr durch die Medien gegangen ist. Von vielen wurde der Text als sexistisch empfunden, das Lied wurde auf dem Oktoberfest verboten. „Dazu kommt das Opfermotiv. Jeder, der sich beleidigt oder betroffen fühlt, kann im Internet dazu etwas schreiben.“

Doch statt Bücher in einen entsprechenden Kontext zu setzen, würden sie verbannt werden. „Man dürfte aber fast die gesamte Weltliteratur des 19. Jahrhunderts nicht mehr lesen, wenn man sie nicht kontextualisiert“, sagt Imbusch.

Doch das Problem ist ein ganz anderes: Oft seien es Nichtigkeiten, die emotional aufgeladen werden. „Es geht nicht mehr um den eigentlichen Fall, sondern um einen höheren Wert. Die Zuspitzung ist nichtig, der Fakt noch nichtiger“, sagt Imbusch. Das sei das Gespenstische.

Das Übertriebene werde zur Gefahr – für die freie Meinungsäußerung und in Folge auch für die Demokratie. Wenn Bücher nicht gedruckt, Lieder verboten, Comedians vom Bildschirm verschwinden, Texte von schwarzen Autoren nicht von Weißen übersetzt werden dürfen, habe das Auswirkung auf die Meinungsfreiheit.

Welche Rolle spielt das Internet bei Cancel Culture?

In Deutschland zeige sich die „übertriebene Moralität“ in der Politik, an Universitäten. „Wenn ich nächste Woche in der Vorlesung etwas Unbedachtes sage, würde das auffallen“, erklärt er. Das Internet wirke als Verstärker par excellence. Denn dort schreiben und argumentieren die Menschen in ihrer Blase, eine neutrale Position gibt es nicht.

Indem Medien die Debatte, die im Internet läuft, aufgreifen, werde sie erst groß. Peter Imbusch beruft sich auf den Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der Cancel Culture als „moralische Panik“ bezeichnet.

Welche Rolle spielt Cancel Culture im Rechtspopulismus?

Die zweite Seite ist die rechtspopulistische Perspektive. Rechtsgesinnte Autoren begeben sich in die Opferrolle, monieren, dass mit ihnen Cancel Culture betrieben werde. Diejenigen Rechten, die eine autoritäre Gesellschaft wollen, bezichtigten diejenigen, die den Autoritätskurs der Rechten anprangern.

„Das Perfide bei Cancel Culture ist, dass sich die Täter zu Opfern machen“, erklärt Imbusch. Oft behaupteten diese Menschen von sich, für Meinungsfreiheit einzustehen – wollten sich im Umkehrschluss aber nichts sagen lassen.

Klar sei eines: Erst durch das Canceln wird Aufmerksamkeit geschaffen. „Ich hätte den Song Layla sonst nie gekannt“, erklärt Peter Imbusch. Er nennt ein weiteres Beispiel: Im Mainzer Karneval singt Ernst Neger das Lied „Heile, heile, Gänsje“. „Es gab eine große Diskussion, ob jemand mit dem Namen Neger dieses Lied singen darf oder ob das Lied nicht umbenannt werden muss“, erklärt Imbusch. „Da kommt die Frage auf, ob das noch im Rahmen ist.“

Kann Cancel Culture den Einzelnen bedrohen?

Das Konzept der Cancel Culture sei neu. „Dafür hat es aber eine rasante Karriere hingelegt“, so der Soziologe. Ob Cancel Culture für die Betroffenen Auswirkungen habe, sei individuell. „Die meisten Fälle sind unspektakulär.“ In den USA hätten schon Lehrer ihren Job verloren. „Das kann da ein richtiger Karriereknick sein“, weiß Imbusch.

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