Ein Jahr Krieg

Priester aus der Ukraine beschreibt das „Wunder der Solinger Umarmung“

Ukraine-Krieg - Maxymilianivka
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Die Zivilbevölkerung leidet seit einem Jahr massiv unter den russischen Angriffen.

Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Dazu ein Gastbeitrag von Pfarrer Michael Fetko, der selbst aus der Ukraine stammt.

Am 24. Februar 2022 wurde ich um 5.45 Uhr von einer SMS meiner Mutter geweckt. Diesmal kam die morgendliche SMS ohne „Guten Morgen“. Die Nachricht war kurz und bündig, aber sehr klar: „Russland beschießt unsere Hauptstadt Kiew und andere Städte in der Ukraine mit Raketen. Der Kriegszustand wurde ausgerufen.“

In diesem Moment brach die Welt über mir und in mir zusammen. Hunderte Gedanken schossen mir durch den Kopf. Gleichzeitig waren mein Herz und Verstand von Angst und großer Sorge blockiert. Wenige Minuten später telefonierte ich mit meinen Eltern und erfuhr, dass unser Bundesland Transkarpatien in der Südwestukraine (noch) nicht angegriffen wurde. Diese Mitteilung beruhigte mich ein wenig, aber ich spürte, dass meine Eltern sich in großer Hilflosigkeit wegen der allgemeinen Mobilmachung befanden. Laut dieser dürfen männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen.

Pfarrer Michael Fetko arbeitet seit zwei Jahren in Solingen

Sorge

Konkret: Mein Vater, Schwager und viele Freunde könnten jederzeit an die Front geschickt werden. In diesem Augenblick wurde mir bitter bewusst, dass dieses Gespräch die letzte Gelegenheit sein konnte, mit meiner Familie zu sprechen.

Zwei Stunden später eilte ich ins Klinikum zu meiner Dienststelle und feierte zusammen mit meinen Kollegen in der Kapelle eine sehr berührende Heilige Messe. Wir nahmen die Not ins Gebet und haben mit Tränen in den Augen für Frieden und für die ersten unschuldigen Kriegsopfer gebetet. Der letzte Satz aus der Tageslesung nach dem Jakobusbrief (Jak 5, 1-6): „Ihr habt den Gerechten verurteilt und umgebracht, er aber leistete euch keinen Widerstand“ beschäftigt mich bis heute. Bereits am Abend des 24. Februars fanden in Solingen in mehreren katholischen und evangelischen Kirchen Friedensgebete statt.

Während ich in den folgenden Tagen fast im 20-Minuten-Takt telefonisch „Erste Hilfe“ für meine Eltern, Freunde und Bekannte in der Ukraine leistete, erhielt ich von deutschen Freunden unzählige SMS mit tröstenden Worten der Solidarität.

Trost

Diese lebendige Solidarität und das warme, menschliche Interesse an dieser Tragödie gab mir damals viel Kraft und Halt und hat mich für meine neue Rolle als „Dolmetscher des Krieges“ und als Augen, Ohren und leise Stimme der ukrainischen Flüchtlinge in Solingen nachhaltig gestärkt.

Eine Woche später brachte eine Gruppe um den Landtagsabgeordneten Josef Neumann (SPD) Hilfsgüter und das von der Kplus Gruppe bereitgestellte medizinische Material zum polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka bei Przemysl. Der katholische Stadtdechant Pfarrer Michael Mohr rief zu Spenden für die Flüchtlingsarbeit in meinem Heimatbistum Mukachevo auf. Die Spendenbereitschaft war enorm groß.

Der Rotary-Club Solingen-Klingenpfad stellte durch die Vermittlung von Prof. Dr. Pfaffenbach eine großzügige Spendensumme für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung. Das Klinikum übergab Medikamente und medizinische Hilfsgüter an die Botschafterin des ukrainischen Konsulates. Am 5. März brachten die Stadtwerke Solingen zusammen mit dem Busunternehmen Wiedenhoff Hilfsgüter nach Polen und nahmen von dort 60 geflüchtete Frauen und Kinder nach Solingen mit. Die Anteilnahme und Hilfe in Solingen war riesengroß. Damals haben sich viele Solinger Familien bereiterklärt, den Geflüchteten Wohnungen und Zimmer zur Verfügung zu stellen.

Hilfe

Seit Mitte März kamen immer mehr geflüchtete Frauen und Kinder nach Solingen. Der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach versicherte mir von Anfang an volle Unterstützung und betonte, dass es sein Anliegen sei, dass die Geflüchteten sich hier willkommen fühlen. Rathaus, Verwaltung, Erstaufnahmestelle im Impfzentrum und Jobcenter arbeiteten mit Hochdruck.

Parallel fanden unter der Koordination der Engagementförderin Bina Vermeegen in St. Sebastian und in Zusammenarbeit mit Pfadfindern, Caritasverband, Zentrum Frieden, VHS und anderen Partnern regelmäßige Angebote wie Sprachkurse, Kinderbetreuung, Kleiderausgabe, Hilfe bei Wohnungssuche oder Gottesdienste für die Geflüchteten statt. Auch die Evangelische Kirche und Diakonie sowie Malteser, Johanniter und YourMediCall leisteten hervorragende Arbeit für die Flüchtlinge. Die sprachliche Hürde bleibt aber in allen Bereichen eine Herausforderung.

Die ukrainischen Frauen und Kinder waren sehr überrascht über die Gastfreundschaft, Willkommenskultur, Offenheit, Hilfsbereitschaft und Solidarität, die ihnen vonseiten der Deutschen entgegengebracht wurden. Gäste nehmen in der Ukraine einen besonderen Stellenwert ein. Dies kommt auch im ukrainischen Sprichwort zum Ausdruck: „Einen Gast im Haus zu haben, bedeutet Gott im Haus zu haben.“

Viele ukrainische Frauen erzählten mir, dass die deutschen Frauen sie in den ersten Tagen viel umarmten. Diese Wärme tat ihnen besonders gut. Ich stelle fest: Seit dem 24. Februar „umarmen“ und „heilen“ die Solinger die Ukrainer vor Ort tagtäglich, in den Schulen, bei der Tafel, in den Krankenhäusern, im Jobcenter, und in den Kirchen.

Unvergesslich bleibt für viele das orthodoxe Osterfest als Fest der Begegnung im Solinger Südpark, das von Privatpersonen, Vereinen und Kirchen organisiert und mitgestaltet wurde.

Dank

Das Wunder der „Solinger Umarmung“ hat bei vielen Menschen den Schmerz gelindert und Wunden geheilt. Dafür und für all das Gute sind sie und bin ich sehr dankbar und werden dies nie vergessen.

Zur Person: Michael Fetko

Michael Fetko ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Er ist Priester und seit März 2021 Krankenhausseelsorger im Städtischen Klinikum Solingen.

Unterburger Netzwerk besteht nach wie vor

Hilfe im Stadtteil

In Burg war die Welle der Hilfsbereitschaft schon wenige Tage nach Kriegsbeginn groß, als Anfang März 2022 die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine eintrafen. Schnell und eher zufällig entwickelte sich unter Familien in Unterburg ein Netzwerk, das bis heute hält. „Die Familien, die Wohnraum zur Verfügung gestellt haben, haben sich mit konkreter Hilfe und Kontakten gegenseitig unterstützt“, erzählt Lydia Gabriel.

Sie hat damals eine Wohnung für eine vierköpfige ukrainische Familie – Großmutter, Mutter und zwei Töchter – zur Verfügung gestellt. „Die vier wohnen noch immer hier, die Mutter, eine Englischlehrerin, spricht mittlerweile fließend Deutsch, die Mädchen besuchen die Kita und die August-Dicke-Schule“, freut sie sich über die gelungene Integration.

Ging es zunächst um die Erstversorgung, so tauschen die zwölf Mitglieder der Unterburger Whatsapp-Gruppe sich mittlerweile über Sprachkurse, Wohnungen, Möbel oder fehlenden Hausrat für die Geflüchteten aus. Zwölf Erwachsene, elf Kinder und zwei Katzen aus der Ukraine werden von den Unterburgern betreut. „Das ist ein gutes Netzwerk, das funktioniert“, so Gabriel. Parallel sammelt die Gruppe auch Spenden, die über einen privaten Kontakt in die Ukraine gehen. -sith-

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