Interview

Ministerpräsident Hendrik Wüst - „Ich bin überzeugt: Es kann keinen Schlussstrich geben“

Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) beantwortete die Fragen des Solinger Tageblatts in dieser Woche bei einem telefonischen Interviewtermin.
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Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) beantwortete die Fragen des Solinger Tageblatts in dieser Woche bei einem telefonischen Interviewtermin.

Ministerpräsident Hendrik Wüst über den Kampf gegen Rechtsextreme, politische Instrumentalisierung und die Klingenstadt als ermutigendes Beispiel.

Von Björn Boch

Herr Ministerpräsident, Sie waren zum Zeitpunkt des Brandanschlags Schüler. Welche Erinnerungen haben Sie an den 29. Mai 1993?
Hendrik Wüst: Der Brandanschlag hat alle Menschen sehr bewegt, mich auch. Der 29. Mai 1993 ist bis heute einer der dunkelsten Tage in der Geschichte unseres Landes. Auf der anderen Seite steht die bemerkenswerte Stärke von Mevlüde Genç und der ganzen Familie – bis heute. Es zeugt von großem Mut und von Großherzigkeit, sich nicht übermannen zu lassen von Hass, sondern die Hand auszustrecken. Bis heute steht Solingen für zwei Dinge: für schlimmsten Fremdenhass in der niederträchtigsten Form und für unglaubliche Stärke und Haltung.
Welche Rolle spielt das Erinnern, das Gedenken aus Ihrer Sicht? Und wie kann es gelingen, ohne zum Ritual zu verkommen?
Wüst: Erinnern muss immer einhergehen mit der Frage: Was lernen wir für die Zukunft daraus? Ich habe in dieser Woche eine Zusammenkunft mit Schülerinnen und Schülern erleben dürfen, bei der auch Mevlüdes Enkelin Özlem Genç dabei war. Da wurde schnell klar: Ihre Großherzigkeit hat Mevlüde Genç an die nächste und übernächste Generation weitergegeben. Es ist toll, dass sich auch jüngere Generationen engagieren. So erreichen wir Jugendliche auf anderen Wegen.
Es gibt Schüler, die das Ereignis Brandanschlag nicht mehr einordnen können.
Wüst: Deswegen ist es so wichtig, dass Menschen ihr Wissen und ihre Gefühle teilen mit anderen, die sich nicht erinnern können, weil sie zu jung sind. In Mevlüde Gençs Wunsch, den Opfern, der Familie, ein Gesicht zu geben und sich mit den Geschichten der Opfer zu identifizieren, liegt eine Stärke des Erinnerns. Und es berührt. Mich selbst berührt es immer aufs Neue, wenn Familien mit ausländischen Wurzeln erzählen, dass sie damals ihre Kinder mit Kleidung ins Bett geschickt haben – für den Fall, dass sie schnell das Haus hätten verlassen müssen. Was muss in jemandem vorgehen, der seine eigenen Kinder nicht mehr sicher wähnt?
Welche Lehren können wir aus damals ziehen mit Blick auf heutige Krisen, die mit Flüchtlingsströmen und Einwanderung zusammenhängen? Und welche Gefahren sehen Sie?
Wüst: Die Gesellschaft muss ganz besonders mit Blick auf rassistische oder fremdenfeindliche Tendenzen wachsam sein. Und der Staat muss seiner Verantwortung gerecht werden, auch im Umgang mit Flucht und Migration. Die Landesregierung unternimmt große Anstrengungen, um Rechtsextremismus zu bekämpfen: Wir unterstützen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus und wir haben das Förderprogramm „NRWeltoffen“ entwickelt, um die Kommunen in der Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu stärken. Zudem werden wir bestehende Schutzlücken in einem Antidiskriminierungsgesetz schließen und die Rechte der Betroffenen stärken. Wir sehen die Gefahr. Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch 30 Jahre nach dem Brandanschlag nicht an Bedeutung verloren hat.
Ein bekannter Neonazi hat für den 29. Mai eine Demonstration angemeldet. Wie hoch ist die Gefahr der politischen Instrumentalisierung?
Wüst: Eine solche Instrumentalisierung darf es nicht geben, in keiner Form. Ich kann nur jeden auffordern, das Gedenken an den Anschlag nicht zu missbrauchen für politische Ziele. Wer das versucht, dem sage ich ganz klar: Ihr seid hier nicht willkommen.
Während bundesweit Solingen in einer Reihe mit Lichtenhagen und Hoyerswerda genannt wird, empfinden das viele Solinger als nicht zutreffend, nicht zuletzt wegen der Reaktionen der Zivilgesellschaft. Wie ordnen Sie Solingen da ein?
Wüst: Jeder Anschlag ist furchtbar. Aber es führt nie weiter, alles über einen Kamm zu scheren. Die Zivilgesellschaft in Solingen hat sich damals – vermutlich auch wegen der Stärke von Mevlüde Genç – geschlossen für Demokratie und gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit positioniert, trotz der unglaublich angespannten Situation damals. Dass das bis heute so ist, ist ermutigend.
Wie werden die Bemühungen Solingens gegen Rassismus in Düsseldorf und bundesweit wahrgenommen?
Wüst: Das zivilgesellschaftliche Engagement, das auch Oberbürgermeister Tim Kurzbach zu seiner Sache macht, ist stark. Wir sind es Familie Genç schuldig, das Erbe von Mevlüde Genç hochzuhalten. Deshalb haben wir auch einen Preis nach ihr benannt und gestiftet. An diesem Freitag wird die Mevlüde-Genç-Medaille wieder verliehen, in diesem Jahr an das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW. Der Preis dient auch dazu, die Erinnerung wachzuhalten und jungen Generationen immer wieder zu zeigen, dass ein respektvolles Zusammenleben nicht selbstverständlich ist, sondern dass es viel aktive Arbeit, gegenseitiges Interesse und Verständnis erfordert.
Welche Bedeutung hat für Sie die Gedenkveranstaltung am 29. Mai in Solingen, die Sie besuchen werden?
Wüst: Eine sehr große Bedeutung, gerade nach dem Tod von Mevlüde Genç. Das Thema hat nichts an Dringlichkeit verloren. Es ist deshalb auch ein gutes Zeichen, dass Bundespräsident Steinmeier und Bundestagspräsidentin Bas kommen. Das Thema hat bundesweite Bedeutung, das machen auch ihre Besuche klar.
Was entgegen Sie Menschen, die sagen: Es reicht auch mal mit Gedenken?
Wüst: Ich bin der festen Überzeugung, dass es da keinen Schlussstrich geben kann. So wie Solingen noch immer mit dem Anschlag verbunden wird, wird es auch mit dem kraftvollen Bemühen zur Versöhnung verbunden. Deshalb ist es klug, diese Erinnerung zu pflegen. Das macht eine Gesellschaft stark. Wir müssen davor gefeit sein, dass sich so etwas wiederholt. Vor allem darum geht es.

Persönlich

Der Jurist Hendrik Wüst, geboren 1975 in Rhede, ist seit Oktober 2021 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und Nachfolger von Armin Laschet. Zuvor war Wüst unter anderem Verkehrsminister in dessen Kabinett und Generalsekretär der CDU NRW. Wüst ist verheiratet und hat eine Tochter.

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