Gesundheit
Medikamenten-Mangel in Solingen ist dramatisch
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Apotheker und Ärzte werden für die Patienten erfinderisch – Lösung des Problems braucht Zeit.
Solingen. Es fehlen Fiebersäfte für Kinder, Antibiotika, teilweise auch Blutdruckpräparate oder Tumormedikamente – der Medikamenten-Mangel, den Ärzte, Apotheker und Patienten jeden Tag erleben, ist dramatisch. In dieser Woche hat das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte deshalb für Antibiotikum-Säfte eine offizielle Mangellage ausgerufen. „Das beschleunigt die Bürokratie etwas“, erklärt Sylvia Weber-Erz, stellvertretende Kreisvertrauensapothekerin in Solingen. So könne ein Medikament beispielsweise herausgegeben werden, obwohl der Beipackzettel nicht zu 100 Prozent vollständig ist.
Dass wichtige Medikamente fehlen, erlebt die Apothekerin jeden Tag. „Es hatte sich zwischenzeitlich etwas entspannt, ist seit Ostern aber wieder deutlich schlimmer geworden.“ Besonders bei antibiotikahaltigen Säften für Kinder, die etwa bei Mittelohr- oder Halsentzündung benötigt werden, sei so gut wie nichts zu bekommen.
Per Whatsapp-Gruppe tauschen sich die Apotheker aus, wer im Notfall welches Präparat zur Verfügung stellen kann. „Im Großhandel fragen wir zweimal pro Tag ab, um mitzubekommen, wenn etwas lieferbar ist. Wenn ja, bekommen wir aber nur eine rationierte Menge“, so Weber-Erz. In der Turm-Apotheke, in der sie tätig ist, kommen Antibiotikum-Säfte mittlerweile nicht mehr aus dem Kommissionierautomaten, sondern stehen im Tresor, „damit wir jederzeit sehen, was noch da ist, wenn jemand anruft“.
Der Medikamentenmangel stellt auch die Ärztinnen und Ärzte in Solingen vor Herausforderungen. Nicht nur, aber auch bei Antibiotika. Wenn mildere Präparate nicht erhältlich sind, muss ausgewichen werden: „Ich musste jetzt mehrfach eskalieren, also ein eigentlich zu starkes Medikament verschreiben, weil das sanftere nicht verfügbar war“, beschreibt Dr. Stephan Kochen die Konsequenzen. „Das ist in einem Land wie Deutschland ein Skandal.“
„Es kann sein, dass Patienten nicht das bekommen, was sie erwarten. Das wird eine Weile so bleiben.“
Als Ursache sieht der medizinische Geschäftsführer des Solinger Ärztenetzwerks Solimed die Preispolitik der Krankenkassen. „Ich bin eigentlich kein großer Kritiker der Kassen. Aber in diesem Fall sagen sie, sie würden den Produzenten zu viel Geld geben. Das sehe ich nicht so. Wir sind im unteren Drittel in vielen Bereichen.“ Das soll sich ändern, eine neue Preisgestaltung zwischen Krankenkassen und Pharmaherstellern ist Teil der Reform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gegen Arzneimittelengpässe. Das wird aber dauern. Aktuelle Konsequenz: Medikamente werden in jene Länder geliefert, die mehr bezahlen, etwa in die Benelux-Staaten.
Die Firmen stellen das her, was wirtschaftlich ist – etwa Tabletten statt Säfte. „Tabletten durchlaufen in der Produktion die Rundläuferpresse mit einer Million Stück pro Stunde, bei Säften in der teuren Glasflasche ist die Gewinnspanne deutlich kleiner“, erklärt die Pharmazeutin Weber-Erz. Manch eine Firma hat sich ganz aus der Antibiotikum-Herstellung verabschiedet.
„Einige Kollegen stellen mittlerweile selbst aus Tabletten Säfte für Kinder her, weil etwa Penizillin in Tablettenform für Kinder schwer zu verabreichen ist“, erklärt Sylvia Weber-Erz. Bei Ibuprofen und anderen Mitteln seien selbst Tabletten oder Lutschtabletten schlecht zu bekommen.
„Auch einzelne Tumormedikamente sind nicht mehr erhältlich. Das macht mich kirre“, betont Dr. Stephan Kochen. Es sei inzwischen so, dass die Kassenärzte vor Beginn eines Notdienstes mit dem Apotheken-Notdienst telefonieren, um zu prüfen, was überhaupt verfügbar ist. „Wir können aktuell nicht immer das medizinisch Sinnvollste verschreiben, sondern nur das, was da ist.“
Das sei zwar besser als die Alternative: kein Medikament. Aber auf Dauer keine Lösung. „Im Supermarkt kann man leichter mal ausweichen, aber in der Apotheke?“, fragt Kochen rhetorisch.
Ärzte- und Apothekerverbände appellieren an die Bevölkerung, sich darauf einzustellen. Das sei weder Bürokratie noch ein Fehler von Ärzte- oder Apothekerschaft, sondern echter Mangel. „Es kann sein, dass die Patienten vielleicht zweimal zur Apotheke müssen und nicht das bekommen, was sie erwarten“, so Kochen. Und ergänzt: „Das wird auch eine Weile so bleiben.“ | Standpunkt
Apotheken
Versorgung: Die Zahl der Apotheken ist auch in Solingen zurückgegangen – auf aktuell 34. Im Jahr 2010 hatte Kreisvertrauensapotheker Christian Veithen von der St. Michael Apotheke im ST-Interview berichtet, dass es mal 44 waren. „Wir spüren den wirtschaftlichen Druck durch Onlineapotheken“, so seine Stellvertreterin Sylvia Weber-Erz. „Aber durch Beratung in der Apotheke kann man oft ein günstigeres, passenderes Medikament bekommen.“