Neurologische Erkrankung

Solinger leidet an Tourette: „Die Leute halten mich oft für gefährlich“

Sebastian Marchand mit seinen Söhnen Samuel und Silas. Seine Kinder gehen mit der Erkrankung ganz unbefangen um.
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Sebastian Marchand mit seinen Söhnen Samuel und Silas. Seine Kinder gehen mit der Erkrankung ganz unbefangen um.

Sebastian David Marchand leidet am Tourette-Syndrom. Die neurologische Erkrankung sorgt immer wieder für soziale Probleme.

Von Kristin Dowe

Solingen. Mit höchster Konzentration hält Sebastian David Marchand den Wasserkocher in der Hand, um dann vorsichtig eine Tasse Tee für den Besuch vom ST aufzugießen. Das klappt heute ganz gut. Mit mehreren Personen wird es eng in seinem Wohnmobil nahe dem Freizeitpark Aufderhöhe, doch der 38-Jährige fühlt sich wohl in seinem kleinen Refugium mitten in der Natur. „Ich habe hier alles, was ich brauche.“

Während er seine Geschichte erzählt, schlägt immer wieder ruckartig sein Arm aus und gelegentlich muss er laute Schreie ausstoßen. Marchand leidet am Tourette-Syndrom. Vor einigen Jahren hatte er schon einmal über die Probleme berichtet, die er dadurch bekommt.

Über sein Krankheitsbild, so ist er überzeugt, gibt es immer noch sehr viel Aufklärungsbedarf. Es handelt sich um eine sogenannte Tic-Störung, eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die mit unkontrollierten Bewegungen und Zuckungen sowie dem Artikulieren lauter Schreie oder Kraftausdrücke einhergeht.

Beeinflussen kann er diese unwillkürlichen Reaktionen nicht. „Nur nachts kommt mein Körper wirklich zur Ruhe“, sagt der Heimerzieher und studierte Sozialpädagoge, der trotz seiner schweren Behinderung einen beachtlichen beruflichen Werdegang hingelegt hat. „Ich möchte Kindern ein Vorbild sein und gehe ganz offen mit der Erkrankung um.“

Wenngleich er seinen Beruf beim Landschaftsverband Rheinland in einer Kinderwohngruppe im Halfeshof
relativ gut meistern könne, habe vor allem seine Wohnsituation in der Vergangenheit regelmäßig zu Konflikten mit Nachbarn geführt, blickt er zurück. Oft gab es Beschwerden über den Lärm, die seine Behinderung mit sich bringt. Gleichzeitig sei es kräftezehrend, Außenstehenden immer wieder aufs Neue erklären zu müssen, was mit ihm los ist.

Als er noch mit seiner früheren Partnerin in einem frei stehenden Haus der evangelischen Kirche in Höhscheid lebte, habe sich das Problem in Grenzen gehalten. „Nebenan gab es nur eine Senioreneinrichtung mit lauter Schwerhörigen – das war der Jackpot“, übt er sich in Galgenhumor. So habe er sich schließlich entschieden, das Wohnmobil zu seinem Lebensmittelpunkt zu machen, um sein Umfeld so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Zu Problemen im öffentlichen Raum komme es dennoch immer wieder. „Es gab meinetwegen schon etliche Polizeieinsätze“, schildert er. Vor allem, wenn Menschen ihn zusammen mit seinen Kindern, zwei sechs und neun Jahre alte Söhne, sähen, interpretierten sie seine Schreie und Zuckungen oft irrtümlich als aggressives Verhalten gegenüber den Kindern.

Trotz der abgeschiedenen Lage des Wohnmobils würden Passanten auf ihn aufmerksam. In einem Fall, so schildert er, sei das Fahrzeug plötzlich nachts von Polizisten umstellt gewesen, weil jemand dort aufgrund seiner lauten Schreie eine Gewalttat vermutet hatte.

Solinger gerät oft ins Visier von Verkehrskontrollen

Zudem gerät er durch sein auffälliges Verhalten immer wieder in Verkehrskontrollen. So ist Marchand im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis, muss aber wegen seiner Tourette-Erkrankung ein Cannabis-basiertes Medikament einnehmen. Obwohl er dies mit einem Attest auch belegen kann, sei er bei Kontrollen im Straßenverkehr schon zur Blutabnahme gezwungen worden und gerate immer wieder in Erklärungsnot. Ein Verfahren vor dem Amtsgericht Münster endete mit einem Freispruch für den Solinger. Vorgeworfen wurde ihm kurioserweise, sein Medikament auf Cannabis-Basis zu niedrig dosiert zu haben.

Marchand besitzt eine gültige Fahrerlaubnis, muss seine Fahrtüchtigkeit mit Blick auf die Medikation aber selbst beurteilen – eine rechtliche Grauzone. Wenn sein Zustand sich verschlechtert, lasse er das Auto stehen, versichert er.

„Das ist eine sehr herausfordernde Situation für mich.“ Deshalb wünsche er sich, dass es nicht nur in der Gesellschaft mehr Wissen über sein Krankheitsbild gibt, sondern insbesondere auch bei der Polizei. Aus diesem Grund hat er mehrere Polizeidienststellen in Solingen, Wuppertal, Leichlingen und Langenfeld kontaktiert, um auf seine spezielle Problematik aufmerksam machen. Auch wenn er die Skepsis vieler Menschen verstehen könne, fühle er sich manchmal kriminalisiert.

Ersparen könne man dem Betroffenen solche Kontrollen nicht, wenn Bürgerinnen und Bürger seinetwegen die Polizei verständigten, macht Polizeisprecher Stefan Weitkämper deutlich. „Wenn die Kollegen gerufen werden, müssen sie auch ausrücken und dem Hinweis nachgehen.“ Das Krankheitsbild des 36-Jährigen dürfe dabei keine Rolle spielen. Auch sei es kaum möglich, seinen Hintergrund umfassend an alle diensthabenden Polizeibeamten zu kommunizieren.

Sebastian David Marchand wünscht sich letztendlich nur ein wenig mehr Bewusstsein in der Gesellschaft für Menschen wie ihn, die ein bisschen anders als die anderen sind. „Ich möchte mal durch Solingen laufen können und einfach nur freundlich gegrüßt werden. Das wäre mein Traum.“

Hintergrund: Die Krankheit Tourette

Das Tourette-Syndrom ist eine angeborene und nicht heilbare Erkrankung des Nervensystems, die meist um das siebte Lebensjahr herum beginnt. In Deutschland sind laut Schätzung von Experten etwa 40.000 Menschen betroffen, überwiegend männlich.

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