Zentrum für verfolgte Künste

„Solingen ’93“ ist eine Zeitreise in den Schrecken

Den fünf Opfern des Brandanschlags von 1993, Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülistan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç, gibt die Künstlerin Sandra del Pilar ein Gesicht. Im Museum in Gräfrath stellt das Zentrum für verfolgte Künste die Porträts in Schleiertechnik in düsterer Atmosphäre vor, die zum Innehalten auffordert.
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Den fünf Opfern des Brandanschlags von 1993, Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülistan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç, gibt die Künstlerin Sandra del Pilar ein Gesicht. Im Museum in Gräfrath stellt das Zentrum für verfolgte Künste die Porträts in Schleiertechnik in düsterer Atmosphäre vor, die zum Innehalten auffordert.

Im Zentrum für verfolgte Künste wird das Gedenken an den Brandanschlag neu, teils unbequem, aber stets würdig inszeniert

Von Philipp Müller

Solingen. Im Neubau des Museums im ehemaligen Gräfrather Rathaus treten die Besuchenden durch einen schwarzen Vorhang in einen besonderen Gedenkraum. An der einen Seite hängen Bilder der Künstlerin Sandra del Pilar mit Porträts in Schleiertechnik der fünf Opfer der grausamen Brandnacht vom 29. Mai 1993. Die Bilder von Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülistan (auch die Schreibweise Gülüstan ist richtig) Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç haben durch ihre Dreistufigkeit der Gestaltung etwas von einem Hologramm. Ändert man den Blickwinkel, ändert sich das Porträt. Das schafft packende Atmosphäre. Direkt auf der gegenüberliegenden Seite sind kurze Angaben zu den fünf Frauen und Mädchen in Bilderrahmen zu lesen. Etwa die, dass sich die jüngsten Mitglieder der Familie Genç besonders auf das nahe Opferfest gefreut hatten. Stattdessen kamen die Flammen. In diesem dunklen, die Opfer würdig präsentierenden Raum liegt auf einer schwarzen, schlichten Stele eine rote Nelke als Zeichen der Trauer.

Der Stimme der Versöhnung, Mevlüde Genç, ist in „Solingen '93“ ein wichtiger Platz eingeräumt.

Im Vorfeld von „Solingen ’93“ hatte das Team des Zentrums für verfolgte Künste engen Kontakt zur Familie Genç. Die verstorbene Mevlüde Genç war es, die sich im vergangenen Jahr eine neue Ausrichtung des Gedenkens an die furchtbaren Ereignisse der Pfingsttage 1993 gewünscht hatte. Die Opfer sollten mehr Gesicht bekommen. Und es sollte für die nachfolgenden Generationen ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dritte Säule des neuen Gedenkens bleibt die Botschaft der Aussöhnung, die sich Mevlüde Genç schon auf die Fahnen geschrieben hatte, als ihr Haus an der Unteren Wernerstraße noch nach der Attacke durch vier dafür verurteilte Rechtsextremisten rauchte.

Die Schau „Solingen '93“ ist türkisch und deutsch gestaltet

Im Museum in Gräfrath wird das entsprechend dargestellt. Schon beim Betreten des Museums und den ersten Blicken auf „Solingen ’93“ wird klar: Es geht zweisprachig zu, Deutsch und Türkisch sind gleichberechtigt. Denn Sprache ist ein ganz wichtiges Element der Ausstellung. In zwei Zeitstrahlen wird über die beiden Etagen des Neubaus eine Zeitreise des Schreckens dokumentiert. Die wichtigsten Taten sind rot hinterlegt. Folgerichtig hat die Schau zum Brandanschlag mit den vielen Facetten aus Historie und Kunst auch einen zweisprachigen Titel: „Solingen ’93 – Unutturmayacağız! Niemals vergessen!“

Fotos der Familie Genç geben der Ausstellung eine sehr persönliche Note und werden zu Zeitzeugnissen.

Das Team um Direktor Jürgen Kaumkötter und die Kuratorinnen Hanna Sauer und Birte Fritsch greift in der Chronik rechtsradikale und rechtsextremistisch Taten seit der Zeit der Anwerbung von Gastarbeitern auf. Jürgen Kaumkötter erklärt: „Das ist nicht ganz einfach, weil früher die Taten nicht entsprechend ihrer politischen Motivation eingeordnet wurden.“ Und doch gelingt dem Zentrum zum Thema eine schlichte und daher eindruckvolle Umsetzung: Eine Säule im Untergeschoss trägt die Namen von fast 400 Opfern der Gewalt rechtsextremer Täterinnen und Täter.

Egal ob NSU-Komplex, das Attentat auf das Münchener Oktoberfest, die Serie der Brandanschläge der 1990er Jahre oder die tödlichen Schüsse auf den Politiker Walter Lübcke – die Taten haben immer eine ganz persönliche Geschichte als Hintergrund. Die der Opfer. Das Zentrum bildet dazu einen zweiten Zeitstrahl. Er beginnt mit der Geburt von Mevlüde Genç 1943 in Mercimek, begleitet die Ausstellungsbesucher mit Fakten, wie daraus eine große Familie wurde, wie es zum Umstand kam, als Migranten nach Deutschland zu kommen, erklärt, wie Fleiß zu bescheidenem Wohlstand führte. Das lässt erahnen, wie Solingen zur Heimat der Familie wurde, der sie bis heute tief verbunden ist, und endet mit dem morgigen 28. Mai. Dann wird der Mercimek-Platz im Herzen der Stadt in Mevlüde-Genç-Platz umbenannt.

Museumsdirektor Jürgen Kaumkötter und die beiden Kuratorinnen Hanna Sauer (Mitte) und Birte Fritsch haben sich für „Solingen '93“ für eine Kombination aus Darstellung der Historie und Kunst entschieden.

Mevlüde Genç wurde schnell zum markanten Gesicht des Brandanschlags. Dies, weil sie zur Versöhnung aufrief. Dies, weil sie kluge Worte für ein alternativloses Zusammenleben aller Kulturen wählte. Und dies, weil sie auch ihr Herz sprechen ließ, um damit an uns alle zu appellieren.

Alte Demo-Parolen, Fotos von den Pfingsttagen 1993 und der Zeitstrahl rechtsextremer Gewalttaten fangen die Stimmung der Tage nach dem Brandanschlag eindrucksvoll auf und ordnen sie historisch ein.

In der Ausstellung „Solingen ’93“ wird die wichtige, kluge und warmherzige Frau mit einem Ölbild entsprechend gewürdigt und auch ihrer Bedeutung entsprechend in Szene gesetzt. Die polnische Künstlerin Beata Stankiewicz zeigt sie mit trauerndem, ernstem Antlitz, das zugleich viel erzählen will. Dazu hat das Kuratoren-Team Zitate wie „Wir können einander nicht alles, aber zumindest Liebe schenken. Wo Liebe und Respekt sind, verschwindet das Böse.“ gestellt, die Mevlüde Genç weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus zur Autorität der Versöhnung gemacht haben.

Wut, Anklage, Unverständnis. Transparente aus den Demonstrationen 1993 oder auch vom Tatort an der Unteren Wernerstraße bezeugen vor allem Fassungslosigkeit über die Tat, die sich unterschiedlich äußerte.

Das Museum erhebt für die Schau keinen Eintritt

Das Zentrum für verfolgte Künste hat eine prägende Ausstellung geschaffen. Zeitzeugen werden schnell von der Erinnerung gepackt. Für sie ist die historische Einordnung als neues Element sicher mehr als erhellend. Jüngeren Generationen, die das Thema Brandanschlag 1993 gar nicht auf dem Schirm haben, wird eine Zeitreise zu den grausamen Schattenseiten unserer Republik geboten. „Solingen ’93“ versteht sich als Appell gegen jede Form von Rassismus und daraus resultierenden Gewaltfantasien, gar Gewalttaten. Und dafür wird konsequent kein Eintritt erhoben.

Zeitzeugen, Videos und Katalog

Videos: Zeitzeugen waren nicht nur die Basis für viele Elemente der Ausstellung.Im Untergeschoss laufen Zeitzeugen-Videos. Drei stellt das Tageblatt online vor. Für die Familie sprechen Hatice Genç und Cihat Genç. Die Künstlerin Sandra del Pilar erklärt den sie aufwühlenden Prozess, die Bilder der fünf Opfer der Brandanschlagsnacht würdevoll zu erschaffen:

Infos zu Solingen '93: Die Ausstellung läuft vom Dienstag, 30. Mai, bis zum 10. September. Geöffnet ist täglich außer am Montag von 10 bis 17 Uhr. Eintritt wird nicht erhoben. Führungen für Schulklassen oder Gruppen können vereinbart werden:

info@verfolgte-kuenste.de

Katalog: Zur Ausstellung ist ein Katalog in Türkisch und Deutsch erschienen. Er stellt auf 126 Seiten die Ausstellung vor und bietet vertiefendes Material zu den Themen an. Der Katalog kostet im Shop 5 Euro.

Unsere Berichterstattung zum Brandanschlag haben wie für Sie zusammengefasst.

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