In Solinger Mundart verfasst

Gräfrather Heimatlied hat Nazi-Vergangenheit

Das Pfefferminz von Dr. Hillers gilt als älteste deutsche Pfefferminzbonbon-Marke.
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Das Pfefferminz von Dr. Hillers gilt als älteste deutsche Pfefferminzbonbon-Marke.

Hillers-Chefs verschickten im Jahr 1940 musikalische Kriegspropaganda an 700 Soldaten.

Von Andreas Erdmann

Solingen. „O Grewert, o Heimat!“ O Gräfrath, o Heimat! – so lautet der Titel des Gräfrather Heimatliedes in Solinger Mundart, das Jürgen Evertz aus Solingen beim Sortieren von Papieren in seinem Fundus wiederfand. Anbei die zugehörigen Noten und ein Bild vom Gräfrather Marktplatz. „Ich kannte von klein auf das Bergische Heimatlied, aber von einem Heimatlied aus Gräfrath hatte ich früher nie etwas gehört.“ Das Liedblatt habe er vor etwa 30 Jahren von einem Freund erhalten, der heute in Bonn lebt. „Er fand es damals bei einer Wohnungsauflösung“, erzählte Evertz. Dessen Vater sei vor über 80 Jahren als Schreiner und dessen Großvater als Fahrer beim früheren Hillers-Werk tätig gewesen. „Einer von ihnen verwahrte wohl damals das Liederblatt. Vom Text habe ich fast nichts verstanden. Ich spreche kein Solinger Platt.“

Die Geschichte des Liedes reicht auf den 29. Juni 1940 zurück

Das Lied umfasst vier Strophen, der Text gleicht weitgehend einem beschaulichen Stadtrundgang. Man geht durch „trauliche Stroten“ (trauliche Straßen) und sieht „rengs öm den Maartplatz manch Höttschen su stell“ (rings um den Marktplatz manche Ecke so still). Der ganze Ort wirkt wie ein „nett Poppenstüöfken“ (nettes Puppenstübchen). Hymnenhaft setzt der Refrain an: „O Grewert, o Heimat, wie böss du su schön . . .“ (wie bist du so schön. . .). Dann aber, mit Beschwörung einer Heimattreue bis hin zum Tod und Trennungsschmerz, klingt der historische Kontext der Kriegszeit von 1940 heraus, in dem das Lied entstand: „Din Menschen su bieder, su tröü bes tem Dut, van dir mech te trennen, dat hault ech nit ut“ (Deine Menschen so bieder, so treu bis zum Tod, von dir mich zu trennen, das halte ich nicht aus).

Die Geschichte des Gräfrather Heimatliedes reicht auf die Betriebsfeier unter den Mitarbeitern der Hillers-Werke am 29. Juni 1940 zurück. Anlass der jährlichen Feier in Gräfrath war der Jahrestag der Firmenübernahme durch die Cousins Willy und Dietrich Hillers. Dort trug der Werkschor erstmals das Gräfrather Heimatlied vor. Chorleiter Heinz Mönig hatte die Melodie komponiert. Den Text in Gedichtform schrieb Peter Hankammer, der Leiter der Buchhaltung. Gedruckte Kopien des Liedes wurden an Kunden, Freunde, Behörden und andere Firmen verschickt, aber auch an über 700 Gräfrather Soldaten der Wehrmacht – an Letztere mit einem Begleitschreiben der Firmenleitung.

Darin erklärten die der NS-Ideologie zugewandten Hillers-Cousins im Namen der „Hillers-Leute”, sie wollten sich bei den „lieben Gräfrather Jungen” für all das bedanken, was diese „draußen im Feld” für sie geleistet hätten: „Uns ist der Verstand stehen geblieben, wie Ihr mit den Holländern, Belgiern und Franzosen zu Werk gegangen seid. Junge, was habt Ihr die laufenlassen. Wir konnten gar nicht so schnell auf der Karte streichen, wie Ihr das ganze Pack gejagt habt. Es war bestimmt eine Sache, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. In ein paar Tagen habt Ihr einen nach dem anderen niedergeschlagen.“ Dem folgten rassistische Verunglimpfungen gegen Franzosen und Engländer und Kriegshetze.

Hitler bekam einmal eine Kiste Dr. Hillers Pfefferminz

Parallel dazu ließ man den „Gräfrather Jungen“ per Feldpost „süße Päckchen“ mit Hillers-Produkten zukommen. Überhaupt versorgten die Hillers-Werke die deutsche Wehrmacht mit vitaminisierten Bonbons, die sie in hauseigenen Labors entwickelt hatten. Selbst Hitler bekam einmal eine Kiste Dr. Hillers Pfefferminz mit einem von der Belegschaft unterschriebenen Begleitbrief zugeschickt, nachdem er bei einer Rede in der Nähe von Solingen heiser geworden war. Er bedankte sich mit einem persönlichen Schreiben, das die Firmenleitung zu Werbezwecken verbreitete. Den Gräfrather Soldaten sollten die Zusendungen von Heimatklängen, Kriegspropaganda und Süßwaren ein ermutigendes Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln, wobei die NS-Ideologie als zusätzliches Bindeglied zwischen Belegschaft und Management fungierte.

Der damalige IHK-Präsident begrüßte die Versendung des „famosen Briefes” und betonte, der Versuch, „die Betriebsfamilie gerade durch Lied und Musik zusammenzufassen”, habe sich „in vollem Umfang als erfolgreich erwiesen”. Trotz ihrer nationalsozialistischen Positionierungen haben Dietrich und Willy Hillers nach dem Krieg die Entnazifizierungsverfahren unbeschadet überstanden.

Das Gräfrather Heimatlied geriet nach und nach in Vergessenheit, zumal es in Solinger Mundart gefasst war, die immer weniger gesprochen und verstanden wurde.

Die Hillers-Werke

Die Dr. Hillers AG war ein 1885 von Albert und Johann Wilhelm Hillers gegründetes Unternehmen zur Herstellung von Süßwaren in Gräfrath, das bis zum Jahr 1974 bestand. Das im Betrieb produzierte Dr. Hillers Pfefferminz gilt als älteste deutsche Pfefferminzbonbon-Marke. Konditormeister Albert Hillers war zuständig für die Produktion, Kaufmann Johann Wilhelm Hillers für den Vertrieb. Ab dem Jahr 1913 wurden sie von ihren Söhnen Willy und Dietrich unterstützt. 1951 wurde auf Anregung von Willy Hillers die Zentralfachschule der Deutschen Süßwarenwirtschaft eröffnet. Der Produktionsstandort am Obenflachsberg in Gräfrath wird heute vom Unternehmen Haribo genutzt.

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