Vor 30 Jahren

Brandanschlag: „Die Menschen in Solingen gaben eine starke Antwort“

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bat aus Termingründen darum, schriftlich auf die Fragen unserer Redaktion zu antworten. Das Interview fand per E-Mail statt.
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Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bat aus Termingründen darum, schriftlich auf die Fragen unserer Redaktion zu antworten. Das Interview fand per E-Mail statt.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas über den Sinn von Gedenkveranstaltungen, Rassismus in der Gegenwart und den Mevlüde-Genç-Platz.

Von Björn Boch

Frau Bundestagspräsidentin, Sie waren zum Zeitpunkt des Solinger Brandanschlags 25 Jahre alt und haben in Duisburg gearbeitet. Welche Erinnerungen haben Sie an den 29. Mai 1993?

Bärbel Bas: Furchtbare Erinnerungen. Es gab 1993 zwar noch keine Eilmeldungen auf dem Smartphone, aber die schockierenden Bilder verbreiteten sich sehr schnell. Wir hatten Anfang der 1990er bereits in anderen Städten unfassbare rechte Gewaltausbrüche sehen müssen. Jetzt hatten diese brutalen Angriffe einen neuen Höhepunkt erreicht und waren in unserer Region angekommen. Ich erinnere mich aber auch an das beeindruckende Engagement gegen Gewalt und Rassismus, mit dem die Menschen in Solingen eine starke Antwort gaben.

Welche Rolle spielt das Erinnern, das Gedenken aus Ihrer Sicht? Und wie kann es gelingen, ohne zum Ritual zu verkommen?

Bas: Wir brauchen das Erinnern, um Gegenwart und Zukunft gestalten zu können. Wir brauchen Gedenktage, bei denen wir zusammenstehen und das Leid der Opfer in den Mittelpunkt stellen. So wie in Solingen am 29. Mai. Wir müssen immer wieder ihre Namen nennen, damit sie nicht in der Anonymität versinken. Vor 30 Jahren wurden fünf Frauen und Mädchen durch den rechtsextremen Anschlag aus dem Leben gerissen: Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Wir dürfen sie nicht vergessen. Aber wir brauchen nicht nur diesen einen Gedenktag. Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die im Alltag wirkt. Ich finde es wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger über ihre Erfahrungen mit Rassismus und Rechtsextremismus öffentlich berichten. Wir in der Politik müssen das ernst nehmen und mit der Zivilgesellschaft nach Lösungen suchen. Gerade wir als Abgeordnete sind für die politische Kultur in diesem Land maßgeblich verantwortlich.

Während bundesweit Solingen in einer Reihe mit Lichtenhagen und Hoyerswerda genannt wird, empfinden das viele Solinger als nicht zutreffend, nicht zuletzt wegen der Reaktionen der Zivilgesellschaft. Wie ordnen Sie Solingen da ein?

Bas:In Solingen war es in der Tat beeindruckend, wie entschlossen sich die Zivilgesellschaft aus allen gesellschaftlichen Gruppen nach dem Schock über den Brandanschlag für ein besseres Zusammenleben engagiert hat. Die Menschen haben klar gezeigt: Wir lassen uns als Gesellschaft nicht spalten. Im Gegenteil: Wir haken uns unter und stehen erst recht zusammen. Es fällt mir schwer, die fürchterlichen Ereignisse der 1990er Jahre miteinander zu vergleichen. Sie waren alle grausam und erschütternd: Die pogromartigen, tagelangen Ausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda und die mörderischen Brandanschläge von Mölln und Solingen. Besonders schlimm ist für mich, dass Rassismus und Hass auf Flüchtlinge oder Menschen anderer Herkunft weiter da ist. Nach Solingen hatten wir immer wieder Opfer rassistischer Gewalt zu beklagen, ich nenne hier nur die Morde des NSU, die Anschläge in Hanau oder in Halle. Der Hass ist nicht vorbei und findet heute auch im Netz neuen Nährboden.

Wie werden die Bemühungen Solingens gegen Rassismus in Berlin und bundesweit wahrgenommen?

Bas: Die Stadt Solingen und viele zivilgesellschaftliche Akteure – Schulen, Vereine, auch Organisationen der türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger – sind seit Jahren sehr aktiv und erfolgreich. Diese Aktivitäten strahlen nach außen. Zum Beispiel das Mahnmal auf Initiative der Jugendhilfewerkstatt vor dem Mildred-Scheel-Berufskolleg oder das Solinger Bündnis für Toleranz und Zivilcourage. Ich freue mich, dass dieses breite Bündnis auch bei den Planungen zum Gedenken an den Brandanschlag so aktiv ist und den Blick nach vorne richtet. Für eine offene, tolerante und vielfältige Gesellschaft auch in Zukunft. Dafür: Herzlichen Dank! Bundesweite Initiativen wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ leisten wichtige Arbeit. Auch ich habe eine Schulpatenschaft in meinem Duisburger Wahlkreis. Die Arbeit mit jungen Menschen liegt mir besonders am Herzen. Diese Arbeit müssen wir mit aller Kraft fortsetzen.

Die Anschläge waren eine Folge eines verbreiteten antitürkischen Rassismus. Welche Lehren können wir ziehen mit Blick auf heutige Krisen, die mit Flüchtlingsströmen und Einwanderung zusammenhängen?

Bas:Rassismus und Rechtsextremismus sind leider nicht aus Deutschland verschwunden. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration kommt zu dem Befund, dass Ressentiments gegenüber Musliminnen und Muslimen abgenommen haben, aber noch vorhanden sind. Im vergangenen Jahr hat die Zahl rechtsextrem motivierter Gewalttaten um 12 Prozent zugenommen, Asylunterkünfte werden immer häufiger Ziel von Straftaten. Hass und Hetze bedrohen unsere Gesellschaft. Wir dürfen ihnen keinen Raum lassen, wir müssen den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken, Initiativen gegen Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus fördern. Vor allem aber brauchen wir Menschen, die Zivilcourage zeigen und sich in ihrem Alltag für Toleranz einsetzen.

Welche Bedeutung hat für Sie die Gedenkveranstaltung am 29. Mai in Solingen?

Bas: Es ist mir persönlich wichtig, bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Solingen den Deutschen Bundestag zu repräsentieren. Deshalb habe ich sofort zugesagt, als mich der Solinger Bundestagsabgeordnete Ingo Schäfer im Dezember 2021 gefragt hat. Der Bundespräsident wird die zentrale Rede halten, ich möchte mit meiner Anwesenheit ein Zeichen der Solidarität geben. Mich berührt sehr, dass Solingen einen Platz nach Mevlüde Genç benennt. Sie hat sich trotz des unermesslichen persönlichen Leids unermüdlich für Mitmenschlichkeit, Frieden und Versöhnung eingesetzt und Solingen als ihre Heimat betrachtet. Jetzt wird sie hier immer präsent bleiben. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen.

Persönlich

Bärbel Bas wurde 1968 in Duisburg geboren – im dortigen Stadtrat begann ihre politische Laufbahn. Seit 2009 gewann sie den Wahlkreis Duisburg 1 stets direkt und sitzt seither im Bundestag. Seit Oktober 2021 ist Bas Präsidentin des Deutschen Bundestages – das zweithöchste Amt im Staat. Bas ist verwitwet.

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