29. Mai 1993

Brandanschlag 1993 in Solingen: Fotos als stille Zeitzeugen

Das Haus der Familie Genç in Solingen wenige Stunden nach dem Brandanschlag in der Nacht auf den 29. Mai 1993.
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Der rechtsextreme Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç am 29. Mai 1993 hat Solingen verändert. Fünf Frauen und Mädchen starben damals.

Von Verena Willing

Das Haus der Familie Genç in Solingen wenige Stunden nach dem Brandanschlag: Dieses Bild ging um die Welt.

Es war die Nacht auf den 29. Mai 1993. Zahlreiche Notrufe gehen bei der Solinger Feuerwehr ein. Viele werden durch die Sirenen geweckt, die scheinbar unaufhörlich durch die Nacht heulen. Fünf Frauen und Mädchen sterben in dieser Nacht an der Unteren Wernerstraße in Solingen.

Der Morgen danach

Am Morgen nach dem Brandanschlag birgt die Feuerwehr die Toten. Auch für die Einsatzkräfte eine Nacht, die sie nie vergessen sollen.

Klaus Krämer ist damals als Feuerwehrmann im Einsatz. Er schreibt Jahre später in einem Gastbeitrag für das ST: „Nach dieser Nacht war nichts mehr wie zuvor. Immer, wenn wir in der Zeit danach zum Einsatz alarmiert wurden, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Oder besser gesagt, einen Kloß im Hals. Und das erging nicht nur mir so. Viele unserer Kameraden waren nach dieser Nacht nicht mehr wie davor, einige quittierten sogar ihren Dienst.“

Der Morgen nach dem Brandanschlag - Johannes Rau erschüttert

Der damalige NRW-Ministerpräsident Johannes Rau kommt am Morgen nach dem Brandanschlag nach Solingen. Der gebürtige Wuppertaler ist schockiert. Später sagt seine Frau Christina Rau im Interview mit dem ST über dieses Bild: „Das Foto ist authentisch. Ich sehe meinem Mann an, wie furchtbar aufgewühlt er war. Eine Mischung aus Trauer, Entsetzen, Wut und Fassungslosigkeit. Es hat ihn schrecklich mitgenommen.“

Und: „Unmittelbar nach dem Brandanschlag stellte er sich resigniert und entmutigt die Frage, ob er überhaupt noch in der Politik bleiben sollte. Er sah seine persönlichen Bemühungen gescheitert, jedem Zuwanderer, der hier Heimat sucht, Chancengerechtigkeit und gastfreundliche Aufnahme zu garantieren, in Toleranz und Mitmenschlichkeit.“

Jugendliche trauern um ihre ehemalige Mitschülerin

Die fünf Frauen und Mädchen werden aus Solingens Mitte gerissen. Auch ihre Freunde trauern um sie. Vor allem für viele Jugendliche ist der Anschlag unbegreiflich.

Tage nach dem Brandanschlag: Krawallmacher aus ganz Deutschland kommen nach Solingen

Unmittelbar nach dem Anschlag gibt es friedliche Proteste in Solingen. Es entstehen zahlreiche Initiativen gegen Rechtsextremismus, die es noch heute gibt - wie beispielsweise der Solinger Appell.

Auch solche Szenen sind den Solingern in schmerzhafter Erinnerung: Nach dem Brandanschlag kommen Demonstranten aus ganz Deutschland und der Türkei nach Solingen - nicht immer sind sie friedlich. Teilweise sind türkische Nationalisten unter ihnen. Manche lassen ihrer Wut über das Geschehene freien Lauf.

Gerade die Kreuzung am Schlagbaum wird zum Mittelpunkt der Demonstrationen und Ausschreitungen. Die Polizei ist mit Hundertschaften aus ganz Deutschland im Dauereinsatz.

In den Tagen nach dem Brandanschlag gleicht die Solinger Innenstadt einem Trümmerfeld. Schaufenster werden aus Angst vor Randalierern verbarrikadiert. Für manchen Ladeninhaber kommen die Schutzwände jedoch zu spät.

An einen Alltag ist in der Solinger Innenstadt zunächst nicht mehr zu denken.

Hetzbriefe aus der rechtsextremen Szene - Wassereimer neben den Betten

Der Brandanschlag von Solingen steht nicht isoliert als Tat einzelner Jugendlicher. In ihm spiegelt sich ein gesellschaftliches Klima. Auch in Solingen gibt es in den frühen 1990er Jahren eine rechtsextreme Szene. In dem Zusammenhang taucht auch immer wieder der Name einer Kampfsportschule in Gräfrath auf. Der Inhaber ist ein V-Mann des Verfassungsschutzes, wie sich später herausstellt.

In den Tagen nach dem Brandanschlag veröffentlichen Unbekannte in Solingen dieses Schreiben, das an dieser Stelle als Dokument der Zeitgeschichte veröffentlicht ist. Es erklärt, welche Ängste türkische Familien, die seit Jahren in Deutschland lebten, nach den Mordanschlägen in den 1990er Jahren hatten. In der türkischen Community in Solingen gingen viele nach der Tat nur noch komplett bekleidet schlafen, um jederzeit aus dem möglicherweise brennenden Haus flüchten zu können. Andere schafften sich Strickleitern an und stellten mit Wasser gefüllte Eimer neben ihre Betten.

Tage nach dem Brandanschlag: Die Polizei nimmt drei junge Solinger fest

Nach wenigen Tagen gibt es erste Festnahmen. Auf die folgt ein weiterer Schock für viele Solinger. Denn die Festgenommenen sind junge Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren. Einer von ihnen lebt in einem Mehrfamilienhaus gegenüber der Familie Genç. Der damals 16-Jährige trifft in der Tatnacht eher zufällig auf seine Komplizen, die zuvor auf einer Kleingarten-Feier gewesen sind. Wie das Gericht nach mehr als 120 Prozesstagen feststellt, fassen sie spontan den Plan, das Haus der Familie Genç anzuzünden.

Alle Täter haben ihre Haftstrafen verbüßt. Nur einer von ihnen ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Der zum Tatzeitpunkt 20-Jährige lebt heute wieder in Solingen.

Das Grundstück am Tatort an der Unteren Wernerstraße heute

Am 29. Mai 1993 starben Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (9), Hatice Genç (18) und Gürsün Ince (27).

Fünf Kastanien erinnern an der Stelle, an der einst das Haus der Familie Genç gestanden hat, an die Mordopfer.

Mevlüde Genç wird zur Friedensbotschafterin

Mevlüde Genç hat beim Brandanschlag von Solingen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Sie wird zur Friedensbotschafterin: Ihr sofortiger Appell, der Tod ihrer Kinder müsse das Tor zur Aussöhnung öffnen, hat der klugen Frau viel Respekt entgegengebracht – Respekt, den sie sich so sehr für den Alltag der Menschen verschiedener Kulturen in ihrer Heimatstadt Solingen wünschte. Ihr Wirken findet weltweit Beachtung.

Am 30. Oktober 2022 stirbt Mevlüde Genç. Hunderte verabschieden sich an der Unteren Wernerstraße von der Friedensbotschafterin. Zur Trauerfeier kommen auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sowie seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne).

Alle Informationen und Artikel zum Brandanschlag in Solingen hat das Solinger Tageblatt auf einer Themenseite zusammengefasst.

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