Andacht
Das Wunder wäre nötig gewesen
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Theologen halten Andacht im ST – heute Superintendentin Dr. Ilka Werner.
Liebe Leserin, lieber Leser!
Mal den Kopf durchpusten lassen, sage ich manchmal, und dann gehe ich spazieren. Und der Wind wirkt Wunder. Ich bekomme den Kopf frei und kann wieder klar denken. Um das christliche Pfingstfest zu verstehen, denke ich mir diese Alltagserfahrung groß: Allen Menschen pustet die heilige Geistkraft den Kopf frei. Sie können klarer denken und der Geistwind wirkt ein Wunder.
So kann ich mir erklären, wovon die Bibel erzählt (Apostelgeschichte 2): Sie alle können einander verstehen, egal, welche Muttersprache sie haben. Egal, ob sie Platt oder Hochdeutsch sprechen, egal, ob sie nuscheln oder schreien. Sie alle können einander verstehen. Sie können sich nicht nur die Worte übersetzen. Sie können auch die Gefühle, die in den Worten stecken, verstehen, nachvollziehen, begreifen. Sie können die Lebensgeschichten der anderen verstehen. Sie vollziehen die verschlungenen Wege nach, die andere hergeführt haben. Sie hören und lernen, was ihre kulturellen Wurzeln sind. Sie fühlen mit, was die anderen erlebt haben. Warum sie geweint oder gelacht, getrauert oder jubiliert haben. Die Geistkraft macht, dass wir alle einander verstehen können.
Und das ist ein Wunder. Ich habe im Laufe meines Lebens erst nach und nach begriffen, dass es ein Wunder ist, wenn Menschen einander wirklich verstehen. Sich gegenseitig ihre Geschichten anhören können, ohne einander zu beurteilen und ohne recht haben zu wollen. Überhaupt Worte finden für ihre innersten Empfindungen.
Und den Mut zu haben, sie auszusprechen, zögernd, stotternd, stammelnd. Immer bereit, die Worte zurückzunehmen, sich selbst zurückzunehmen, zurückzuweichen in die Einsamkeit und das eigene Schneckenhaus. Und dann doch weiter zu reden. Zu erleben, wie sich Worte finden und Sätze werden. Wie Unaussprechliches gesagt wird, erst leise, dann lauter. Wie tief verschüttete Erinnerungen lebendig werden, schmerzhaft manchmal und manchmal beglückend. Und wie das Gegenüber vorsichtig nachfragt und bruchstückhaft zu verstehen beginnt. Das ist das Wunder.
Das ist ein Wunder, weil es selten ist und nicht immer geschieht. Weil es oft nicht geschieht, auch an Pfingsten oft nicht geschieht. Vor 30 Jahren, am Pfingstfest 1993, geschah es nicht. Da wurden aus Einander-nicht-verstehen Verachtung und Hass. Da wurde aus Sich-für-besser-halten und Recht-haben-wollen Mord. Da starben fünf junge Frauen und Mädchen. Da wurde eine Familie, die Familie Genc, tief verletzt und verwundet. Die Lücke, die der Brandanschlag riss, ist bis heute da und schmerzt. Bei den Angehörigen zuerst und zumeist, aber auch in der Stadt. Da wäre das Wunder bitter nötig gewesen.
In den Tagen und Jahren danach gab es Wunder, kleinere und größere. Da gab es Aufrufe zur Versöhnung. Da gab es Bitten um Vergebung. Da gab es Gesten des Verstehens. Da gab es Worte, die gehört, und Gefühle, die verstanden wurden. Aber es gab auch Unverständnis und Desinteresse und Ignoranz. Es hätte kaum anders sein können. Es gab Wut, weil man, aus Solingen kommend, schräg angesehen wurde. Wut, die sich hilflos und gedankenlos gegen die Opfer richtete, selbstgerechte Rückzüge in die Schneckenhäuser und Fachwerkhäuser.
Herzen mitfühlend machen für ein vertrauensvolles Miteinander
Das alles gibt es auch heute. Darum brauchen wir auch heute mehr Wunder und neue Wunder. Geistwindwunder, die die Köpfe frei und die Gedanken klar machen für die Aufgaben unserer Zeit. Geistwindwunder, die die Erinnerung lebendig und die Herzen mitfühlend machen für ein vertrauensvolles Miteinander.
Komm, Geistwind, komm zu Pfingsten in diesem Jahr, und lass uns einander verstehen, egal, welche Muttersprache wir haben und welches Vaterland, egal, ob wir flüstern oder schreien. Lass uns einander verstehen! Und lass dein Wunder bei uns in Solingen geschehen.
Frohe Pfingsten!
Ihre Ilka Werner