30 Jahre nach dem Brandanschlag
Saime, Hülya, Gülüstan, Hatice und Gürsün sollen nicht vergessen werden
aktualisiert:
- 0 Kommentare
-
Feedback
schließen
- Weitere
Familie Genç wendet sich an die Öffentlichkeit und erklärt, warum das Erinnern auch 30 Jahre nach dem Brandanschlag so wichtig ist.
Von Björn Boch und Verena Willing
Solingen. Zum 30. Jahrestag des Solinger Brandanschlags haben Mitglieder der Familie Genç vor allem einen Wunsch: „Wir wollen an die Verstorbenen erinnern. Damit ihre Namen nicht vergessen werden“, sagt Hatice Genç. Die heute 55-Jährige und ihr Mann Kamil (59) haben den Anschlag auf das Haus an der Unteren Wernerstraße knapp überlebt. Ihre Töchter Saime (4) und Hülya (9) wurden ermordet, ebenso wie die Töchter von Mevlüde Genç, Gürsün İnce (27) und Hatice Genç (18), sowie Nichte Gülüstan Öztürk (12 – abweichend seltener auch Gülistan geschrieben).
Die Namen der Opfer zu nennen, das hat vor allem durch die rechtsextremen Morde von Hanau eine neue Bedeutung erhalten – unter dem Hashtag #saytheirnames („Sagt ihre Namen“) wird dazu aufgefordert, den Opfern Raum zu geben, nicht den Tätern. Die Familie Genç, das berichtet sie bei einem Pressegespräch, stehe in engem Kontakt zu Hinterbliebenen der Hanauer Opfer, aber auch zu Angehörigen der NSU-Mordopfer und zu Hinterbliebenen aus Mölln.
Über die vier verurteilten Solinger Täter möchte die Familie ohnehin nicht sprechen. Man respektiere zwar die Entscheidung des Gerichts, dass inzwischen alle auf freiem Fuß seien. „Ich möchte aber nicht daran denken, dass ich ihnen jederzeit auf der Straße begegnen kann“, sagt Hatice. Kontakt habe es nie gegeben, ebenso wenig eine Entschuldigung oder ein Wort des Bedauerns.
„Wir vermissen sie sehr. Sie konnte am besten ausdrücken, was wir empfinden.“
Den Schmerz, das betonen alle Familienmitglieder, spüren sie jeden Tag – ganz konkret. Bei Hatice und Türkan Genç fließen während des Gesprächs immer wieder Tränen. Türkan ist die Ehefrau von Bekir, der vor 30 Jahren schwerste Verbrennungen erlitt und die Öffentlichkeit meidet: „Es geht ihm nicht gut. Er hat jedes Jahr mehr Probleme mit seinen Verletzungen.“ Ihr Sohn Can erlebt als junger Mann, dass längst nicht mehr alle den Begriff „Solinger Brandanschlag“ einordnen können. „Es ist wichtig, dass mehr in den Schulen darüber geredet wird.“
Die Familie könnte sich daher gut vorstellen, dass zum Beispiel Schulen nach Mevlüde Genç, die im Oktober 2022 im Alter von 79 Jahren starb, benannt werden. In Solingen, aber auch andernorts. Mevlüde sei bundesweit bekannt – für ihre Bemühungen um Versöhnung war sie mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Verdienstorden des Landes NRW ausgezeichnet worden.
„Wir sehen keinen Grund, aus Solingen wegzugehen.“
Dass der Mercimek-Platz nahe dem Rathaus nach ihr benannt werden soll, begrüßt die Familie. Auf den Tod von Mevlüde Genç angesprochen, sagt ihr Sohn Kamil: „In diesem Jahr haben wir noch mehr Schmerz als vor ihrem Tod. Wir vermissen sie sehr. Sie konnte am besten ausdrücken, was wir empfinden.“ Nun müssen andere Mitglieder der Familie Genç in Mevlüdes Rolle hineinwachsen.
Besonders schlimm sei der Schmerz am 29. Mai, der dennoch für die Familie der wichtigste Tag des Jahres bleibe. Auch 30 Jahre später sei das Gedenken wichtig, erklären Hatice und Kamil. Das Problem Rassismus in Deutschland sei nicht gelöst, das hätten der Anschlag in Hanau und die NSU-Morde gezeigt: „Wir wollen unsere Botschaft von Liebe, Frieden und Toleranz vermitteln und teilen.“
Direkten Rassismus habe Familie Genç in jüngster Zeit selbst nicht erlebt, wohl aber Freunde und Bekannte. Gerade in sozialen Netzwerken gebe es zudem viele Falschinformationen – dazu kämen Hassbotschaften gegen sie und andere, betont Harun Suratlı, ein Freund der Familie. „Wir tragen mit dem Erinnern dazu bei, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Wir senden positive Botschaften. Und können nicht verstehen, wenn das Gedenken infrage gestellt wird.“
Zum 30. Jahrestag am Pfingstmontag werden mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die beiden höchsten Staatsvertreter erwartet, dazu Bundesinnenministerin Nancy Faeser (alle SPD), NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) und weitere Mitglieder des Landeskabinetts.
Auf Nachfrage, wie Familie Genç den Besuch des türkischen Außenministers Mevlüt Çavusoğlu von Erdogans AKP bewertet, antwortete sie diplomatisch: „Wir freuen uns, dass Bundespräsident Steinmeier kommt – und über weitere Vertreter aus Deutschland und der Türkei“, so das offizielle Statement. Das seien wichtige Multiplikatoren.
Das Gedenken halte die Familie auch deshalb hoch, weil sie nie einen Gedanken daran verschwendet habe, Solingen zu verlassen. „Wir haben hier wieder ein Leben aufgebaut“, sagen Hatice und Kamil, die nach dem Anschlag zwei Söhne bekommen haben. Auch Can, der Sohn von Türkan und Bekir, sei hier glücklich. „Wir sehen keinen Grund, hier wegzugehen, trotz der schrecklichen Ereignisse“, sagt Hatice.
Die Frage sei Mevlüde Genç oft gestellt worden, ergänzt Schwiegertochter Türkan. Sie lebe hier und werde hier sterben, habe ihre Schwiegermutter immer gesagt. „Und so ist es gekommen. Das gilt auch für uns. Wir bleiben bis zur letzten Sekunde.“
Pressegespräch
In der Regel alle fünf Jahre findet ein von der Stadt Solingen vermitteltes Pressegespräch mit Mitgliedern der Familie Genç statt – in diesem Jahr erstmals ohne Mevlüde Genç. An dem Gespräch nahmen ihre Schwiegertöchter Türkan und Hatice Genç teil, Sohn Kamil und Enkel Can – sowie Harun Suratlı, ein enger Freund der Familie. Er half außerdem bei den Übersetzungen: Das lange, sehr emotionale Gespräch fand teils auf Deutsch und teils auf Türkisch statt.