Andacht
„Armut gibt es auch bei uns“
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Theologen laden im ST zur Andacht ein – heute Stadtdechant Michael Mohr
Liebe Leserinnen und Leser,
Armut? Das gibt es in Deutschland doch nicht! Diesen Satz liest und hört man immer wieder. Deutschland als Sozialstaat, in dem niemand ohne Wohnung sein muss, in dem niemand hungern muss oder sogar Angst um sein Leben haben muss. Einerseits ist das selbstverständlich richtig, wenn der Vergleich Länder sind, in denen all das fehlt. Man muss nur auf Berichte schauen, die über Krisen, Kriege und Hungersnöte oder Naturkatastrophen berichten, um das zu erkennen.
Und doch gibt es in unserer Stadt eine Armutskonferenz, und auch beim Neujahrsempfang des Katholikenrates in der vergangenen Woche war genau das Thema, was es doch eigentlich in Deutschland nicht gibt: Armut. Wer mit offenen Augen durch unsere Stadt geht, der weiß natürlich, dass es Menschen gibt, die betteln, die keine Wohnung haben oder Flaschen einsammeln. Wer nur ein wenig die Augen und Ohren offen hält, der weiß, dass auch bei uns die Tafel mehr als genug Zulauf hat. Armut gibt es. Auch hier bei uns.
Was ich immer wieder erlebe ist, dass es über die „sichtbare“ Armut hinaus auch versteckte, verschämte „unsichtbare“ Armut gibt. Und dass Armut nicht nur das Fehlen von materiellen Dingen ist, sondern oft eine andere Art von Armut noch schlimmer ist: die soziale Armut. Wenn man mit der Familie zerstritten ist, keine Freunde mehr hat und im wahrsten Sinne des Wortes ganz allein ist, dann ist das oft schlimmer, als am Ende des Monats jeden Euro noch zweimal umzudrehen. Theoretisch müsste all das nicht sein. Aber viele Menschen scheinen den Weg zu staatlicher Hilfe nicht zu finden. Und vielleicht auch nicht finden zu wollen, denn jeder Mensch ist frei in seinen Entscheidungen, wie er leben möchte. Das muss ich nicht unbedingt verstehen, aber ich sollte es respektieren.
Interessanter als die Frage, wer Schuld hat an den jeweiligen Miseren ist aber, wie Hilfe zu denen kommt, die sie brauchen und suchen. Auch dazu hat es auf dem Neujahrsempfang einige Antwortversuche gegeben. Es gibt, wie mir scheint, grundsätzlich zwei Ansätze: Da ist das Delegieren an den Staat oder in Solingen an die Stadt: die Kommune hat Ämter, in denen Menschen arbeiten, die „Hilfs-Profis“ sind. Die sollen und können sich kümmern. Es hat mich gefreut zu hören, dass das auch geschieht. Da wird nachgehakt, da werden Wege gesucht, da nimmt man sich die Zeit, sich am Graf-Wilhelm-Platz zu denen zu setzen, um die es geht und ihnen zuzuhören.
Mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt gehen
Das ist gut. Aber der zweite Ansatz darf auch nicht ganz fehlen: die direkte Hilfe als Mensch. Das kann mal der Euro sein oder ein Kaffee oder ein belegtes Brot. Das können größere Projekte sein, von denen wir bei dem Empfang auch gehört haben: der Wohlfühlmorgen in Ohligs oder die Suppenküche in Weeg. Das kann aber auch, wenn es um soziale Armut geht, das Springen über den eigenen Schatten sein, wenn ich doch wieder Kontakt aufnehme und pflege.
All das setzt voraus, dass ich mit offenen Augen und mit Ideen durch unsere Stadt gehe und die Bekämpfung der Armut nicht nur an andere wegdelegiere. Und Gott sei Dank ist Hilfe in den meisten Fällen keine Einbahnstraße: Man bekommt, und auch davon haben die Engagierten lebhaft erzählt, oft viel zurück von denen, die doch eigentlich die Schwachen zu sein scheinen. Halten wir alle gemeinsam Augen und Ohren offen, um Armut zu sehen und zu helfen.
Ihr Pfarrer Michael Mohr