Integration
Mutter stirbt bei Flucht aus Afghanistan - Vater und Sohn sind in Solingen angekommen
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Die drei flüchteten 2015 vor den Taliban. Mittlerweile ist Ali Ahmadi gut in Solingen integriert.
Von Jonathan Hamm
Solingen. Wenn Ali Ahmadi seine Geschichte erzählt, dann muss er weit ausholen, denn der 35-Jährige hat viel durchgemacht. Über seine Vergangenheit zu sprechen, fällt ihm nicht leicht – Schmerzen und Schicksalsschläge sind mit ihr verknüpft. Die Geschichte des jungen Mannes beginnt in einer Stadt im Süden Afghanistans – der genaue Name des Ortes soll aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden –, in der er geboren und aufgewachsen ist. Nach der fünften Klasse musste der damals Zwölfjährige die Schule verlassen, um zu arbeiten. Mit 17 Jahren erhielt er eine Anstellung bei seinem Onkel als Elektroniker. Er heiratete, gründete eine Familie, sein Sohn Sohil wurde geboren. Doch eines Tages im Jahr 2015 standen Männer der Taliban bei ihm vor der Tür – und sein ganzes Leben veränderte sich.
Sein Freund und Unterstützer Jürgen Malitte berichtet: „Die Taliban tauchten in dem Ort auf, in dem er gearbeitet hat. Sie haben ihn zuerst höflich, aber ernsthaft und bestimmt aufgefordert, dass er ihnen zur Verfügung stehen soll als Elektrofachmann. Sie wollten ihn mitnehmen.“ Ali Ahmadi wollte nicht für die Taliban arbeiten und bat um Bedenkzeit. Die Taliban aber kamen rasch wieder und verliehen ihrer Forderung Nachdruck: „Beim zweiten Besuch haben sie Gewehre gehabt und seine Frau geschlagen, um der Drohung Wirkung zu verleihen.“ Ahmadi habe den Taliban erklärt, dass er erst einmal packen müsse. Das tat er dann auch – und floh noch in derselben Nacht mit seiner Frau und ihrem Kind.
Was folgte, war eine Odyssee durch zahlreiche Länder mit einer schrecklichen Tragödie. Bei der Überquerung des Mittelmeers ertrank Ali Ahmadis Frau, er und sein Sohn konnten gerettet werden. Plötzlich war der junge Vater auf sich allein gestellt. Den Sohn in seinen Armen schlug er sich durch. „Es war so gefährlich, kalt, aber es gab keine andere Möglichkeit“, berichtet er.
Der Wille, seinem Kind ein besseres und vor allem sicheres Leben bieten zu wollen, habe ihn angetrieben. Auch wenn es ihm schwerfällt, über diese schwierige Zeit zu sprechen, hat er gemeinsam mit Jürgen Malitte entschieden, seine Geschichte zu erzählen. Unter anderem die Debatten über den neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung für eine schnellere Einbürgerung haben dazu den Anstoß gegeben. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach im Interview mit der Bild-Zeitung von einem „Verramschen“ der deutschen Staatsbürgerschaft. Jürgen Malitte macht diese Formulierung fassungslos, da sie impliziere, dass die Antragstellenden nichts für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft tun müssten. Das sei nicht der Fall. Für ihn handle es sich dabei um einen „politisch instrumentalisierten Kampfbegriff“. Die öffentliche Diskussion und die mediale Berichterstattung habe er zum Teil mit Entsetzen verfolgt. Er möchte am Beispiel der Geschichte Ahmadis darlegen, „wie Integration gelingen kann, wenn man den Asylsuchenden durch individuelles Engagement mit Unterstützungsangeboten entgegenkommt“.
Ali Ahmadi und sein Sohn haben sich in Solingen integriert
In Deutschland angekommen ist Ali Ahmadi im Februar 2016 in Paderborn. Dort wurde er als Flüchtling registriert und nach Solingen verlegt. Als alleinerziehender Vater hatte er es ohnehin nicht einfach, musste sich aber zusätzlich in einem fremden Land mit einer anderen Kultur und einer neuen Sprache zurechtfinden. Dennoch stand für ihn sofort fest: „Ich muss hier leben, ich muss die Sprache lernen. Solingen ist jetzt meine Heimatstadt.“
Geholfen hat ihm dabei eine Begegnung, ohne die sein Leben vermutlich anders verlaufen wäre. „Kennengelernt habe ich ihn beim ‚Roten Esel‘“, erinnert sich Jürgen Malitte. Das alte Schulgebäude an der Friedrich-Ebert-Straße, Spitzname „Roter Esel“, war die Unterkunft, in der Ali Ahmadi und sein Sohn lebten. Malitte gibt Deutschkurse für Geflüchtete und ist in der Flüchtlingshilfe aktiv. „Ich habe mich bei der Caritas gemeldet als Ehrenamtler“, erinnert er sich. Bis zu seinem Renteneintritt sei er nach seiner Ausbildung zum Gymnasiallehrer in Mathematik und Sozialwissenschaften als Informatiker tätig gewesen. Das Unterrichten ist für ihn aber eine Herzensangelegenheit geblieben. Schnell erkannte er die prekäre Situation, in der sich der junge Vater befand. „Er hatte als Alleinerziehender ja keine Entlastung“, sagt er und führt aus: „Er kam anfangs immer mit dem Kinderwagen zur Schule, um mit mir Deutsch zu lernen.“
Gemeinsam mit seiner Frau Jutta Presch half Malitte, wo er konnte. Beide unterstützten Ahmadi beim Umgang mit den Behörden, suchten eine Wohnung, einen Kindergartenplatz und boten ihm sozialen Halt. Dieser wollte so schnell wie möglich finanziell unabhängig werden und beschloss: „Ich möchte eine Ausbildung anfangen.“ Gemeinsam mit Jürgen Malitte schrieb er unzählige Bewerbungen – und war schließlich erfolgreich. Ein Solinger Elektrotechnikbetrieb bot ihm nach einem Praktikum einen Ausbildungsplatz zum Elektroniker an. Vergangene Woche hat Ahmadi dann den praktischen Teil und somit die Ausbildung zum Elektroniker erfolgreich absolviert, nachdem er bereits im Dezember vergangenen Jahres die theoretische Prüfung abgelegt hatte.
Um eine Anstellung muss er sich keine Gedanken machen. „Er hat eine Übernahmegarantie“, erklärt Jürgen Malitte und ist stolz auf den Werdegang seines Schülers und Freundes. Ali Ahmadi will sich in die Arbeitswelt integrieren, aber auch Teil der Gesellschaft sein – und als ein solcher angesehen werden. So hilft er beispielsweise beim SV Solingen mit, dem Fußballverein seines Sohnes. Ahmadi ist dankbar für die Unterstützung, die er erhalten hat und will etwas zurückgeben: „Ich helfe gerne“, sagt er. Demnächst plant er, den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu stellen.
Jürgen Malitte ist zuversichtlich, dass diesem stattgegeben wird. Ali Ahmadi würde gerne seine Familie besuchen, die er seit sieben Jahren nicht gesehen hat. Doch ohne deutschen Pass kann er das nicht; bei einem Besuch in seinem Heimatland mit dem alleinigen Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft wäre sein Leben in Gefahr. Sein größter Wunsch: „Ich möchte meine Mutter wiedersehen.“
Einbürgerungen
Die Stadt Solingen teilt auf Anfrage mit, dass im Jahr 2022 348 Personen eingebürgert und 472 Neuanträge gestellt wurden. Zudem leben derzeit ca. 470 Personen in Solingen, die geduldet werden. Die meisten Menschen, deren Antrag auf Einbürgerung stattgegeben wurde, kamen aus Syrien (96), der Türkei (50), Italien (22) und Griechenland (14). 13 Personen kamen
aus der Ukraine.