Tierversuche
Wenn ein Hirsch zum Zahnarzt geht
aktualisiert:
- 0 Kommentare
-
Feedback
schließen
- Weitere
Wuppertal. Der Grüne Zoo Wuppertal erforscht Zahnimplantate für den Menschen an Tieren.
Von Alexandra Dulinski
Fast jeder scheut den Gang zum Zahnarzt. Auch Tiere würden wohl einen Besuch beim „Doc“ hinauszögern, wenn sie könnten. Doch was haben ein Zahnmediziner und ein Hirsch gemeinsam? Das Lösungswort besteht aus neun Buchstaben und lautet „Implantat“. Was beim Menschen einmal ein Leben lang halten soll, muss zuvor an einem Tier erprobt werden. Dafür erforschen der Grüne Zoo Wuppertal, die Universität Bonn und das Wildfreigehege Hellenthal gemeinsam, wie gut ein Hirschgeweih ein Implantat annimmt – und wann es eingewachsen ist.
Doch wieso gerade Hirsche? Schon lange wird an Dauerzahnimplantaten für den Menschen geforscht, erklärt Forschungskurator Dominik Fischer aus dem Zoo Wuppertal. Zu Beginn stehen Modelle und Experimente, doch irgendwann müssen die Materialien dann am lebenden Tier getestet werden – bevor sie in den Menschen kommen. „Bisher wurden dafür Hunde und Schweine eingesetzt, um den Einwachsungsprozess eines Implantats zu beobachten und zu sehen, ob das Material angenommen wird“, erklärt Fischer. Gerade Schweine seien dem Menschen sehr ähnlich. Nicht neu ist, dass Herzklappen vom Schwein Menschen transplantiert werden. Und es gibt weitere Gemeinsamkeiten: „Schweine sind auch Allesfresser und haben beispielsweise eine ähnliche Zahnstruktur wie Menschen“, sagt Fischer.
Wissenschaftler stehen vor einem Dilemma
Doch bei Hunden und Schweinen gibt es ein großes Problem: Nach Ende des Versuchs, dann, wenn das Implantat entfernt wird, muss das Tier getötet werden, um eine Untersuchung des Kieferknochens zu machen – es handelt sich um einen sogenannten Finalversuch. „Diese werden von Wissenschaftlern aber nur sehr ungern und nur wenn unbedingt nötig durchgeführt“, erklärt Dominik Fischer. Ein Dilemma, vor dem die Wissenschaftler stehen.
Bei einer Forschungsarbeit der Universität Bonn fiel einem Doktoranden vor wenigen Jahren auf: Der Querschnitt eines Hirschgeweihs ist dem eines menschlichen Kieferknochens gar nicht so unähnlich. Kurzum: Eine Idee war geboren und eine Kooperation – und fünf Sikahirsche aus dem Wildfreigehege Hellenthal wurden im Jahr 2017 mit Zahnimplantaten in ihren Geweihen ausgestattet. „Es gibt einen großen Vorteil. Das Geweih wird jedes Jahr gewechselt. Selbst wenn im schlechtesten Fall etwas schiefgeht, wächst das Geweih im nächsten Jahr wieder nach. Und das Tier lebt“, erklärt Dominik Fischer.
Weil nur in der Wachstumsphase des Geweihs die umliegende Basthaut von Nerven durchzogen ist, verursacht das Implantat kaum Schmerzen. Oft reiche ein lokales Schmerzmittel aus, um Restschmerzen auszuschließen, erklärt Fischer. Denn damit das Implantat richtig einwachsen kann, müsse es in der Wachstumsphase angebracht werden. Lediglich für das Einsetzen und das Entfernen müssen die Tiere dann in Narkose gelegt werden.
Einen besonderen Knackpunkt gibt es jedoch. „Beim Menschen muss das Implantat im laufenden Betrieb einwachsen“, sagt Dominik Fischer. Sprich: Der Mensch isst, kaut und belastet damit das Implantat. Deswegen haben die Forscher eine akkubetriebene „Belastungsapparatur“, wie Fischer sie nennt, entwickelt, die mithilfe eines Stempels drei Mal am Tag eine Kaubewegung auf das Implantat simuliert. „Wir haben untersucht, wie das Implantat mit und ohne Belastung einwächst“, erklärt Fischer. In regelmäßigen Abständen haben die Forscher das Implantat dann überprüft, nach zwei, vier und sechs Wochen. Schnell war klar, dass zwei Wochen Abheilungszeit zu kurz sind – das Implantat hielt nicht. Sechs Wochen brachten eine deutliche Verbesserung.
Nach Entnehmen einer Gewebeprobe mit innenliegendem Implantat konnten die Forscher das umliegende Geweihgewebe im CT, sowie durch das Anfärben von Gewebequerschnitten die Zellen näher untersuchen. So haben sie sich für die Anzahl der Osteoblasten interessiert – jene Zellen, die Knochengewebe aufbauen. „Anhand der Menge können wir nachvollziehen, ob der Prozess des Einwachsens abgeschlossen ist“, erklärt Fischer. Nach sechs Wochen saß das Implantat fest.
Zum Vergleich haben die Forscher ein unbelastetes Implantat im Geweih gelassen, bis dieses beim Geweihwechsel von alleine abfiel. Rund zehn Monate hatte es dabei Zeit, mit dem Geweih zu verwachsen. „Das saß bombenfest“, sagt Fischer.
Was im Hirsch funktioniert, lasse sich weitestgehend auch auf den Menschen übersetzen – beispielsweise wie verschiedene Materialien wirken und wie lange es dauert, bis sie eingewachsen sind. Dominik Fischer zieht ein positives Fazit gegenüber den Versuchen mit Hunden oder Schweinen. „Wir haben gemerkt, dass die Belastungsapparatur ziemlich gut funktioniert. Sie hätte nicht im Kiefer eines Hundes oder Schweins platziert werden können“, erklärt der Tierarzt. Auf der anderen Seite sei weder der Einfluss von Speichel noch von Bakterien berücksichtigt worden. Berechtigte Kritik, wie er sagt. Jedoch seien alle Tierversuche nur ein Modell. Der Speichel von Hunden und Schweinen habe wieder einen ganz anderen Einfluss auf das Implantat als der Speichel eines Menschen.
Und noch ein Punkt liegt Dominik Fischer am Herzen: das Tierwohl. „Die Zahnimplantate auf dem Hirschgeweih sind ein tolles Beispiel, wie wir aus der Natur lernen können und unseren Fokus erweitern. Denn der liegt nicht mehr nur auf den klassischen Labortieren.“ Die Hirsche eignen sich in diesem Fall am besten und sie können in ihrer sozialen Gruppe bleiben, „leben ihr Leben wie gewohnt weiter“, wie Dominik Fischer erklärt.
Ende 2022 hat er einen neuen Antrag auf Förderung bei der Deutschen Forschungsgesellschaft gestellt. Denn er und die Zahnmediziner wollen weiter an den Implantaten forschen. Unter anderem wollen sie dann die Befestigung der Belastungsapparatur verbessern.
Tierversuche
Bei allen Tierversuchen sei wichtig, so lange wie möglich mit alternativen Modellen oder Zellkulturen zu arbeiten, erklärt Dominik Fischer. Das folge dem 3-R-Prinzip: So wenig Tierversuche wie möglich, so schmerzlos wie möglich (Refinement) – und Tierversuche idealerweise komplett vermeiden (Replacement). Die Erprobung von Implantaten im Sikahirsch entspreche der Stufe des Refinement. Anstatt Hunde und Schweine zu töten, lebt der Hirsch uneingeschränkt weiter.