Experteninterview
Erziehung: „Problem liegt nicht bei Kindern, sondern bei Eltern“, sagt Psychiater
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Im Interview erklärt Psychiater und Buchautor Dr. Bastian Willenborg, wie die Kindheit der Eltern die Erziehung der eigenen Kinder beeinflussen kann.
Kindererziehung ist wahrlich nicht immer ein Zuckerschlecken. Viele Eltern fühlen sich in manchen Situationen schlichtweg überfordert und kommen schon mal an ihre Grenzen, wenn der Nachwuchs sich beispielsweise querstellt. Die Folgen davon sind Auseinandersetzungen und Streitereien, die aus nichtigen Anlässen entstehen können. Dabei liegt es allerdings nicht nur an den Kindern, dass ein Streit auch mal eskalieren kann. Laut einem Psychiater ist die Ursache häufig in der eigenen Erziehung und Kindheit der Eltern zu suchen.
Dr. Bastian Willenborg ist nicht nur Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, sondern auch selbst Familienvater von zwei Kindern. Deshalb weiß er aus eigener Erfahrung und durch die Gespräche mit seinen Patienten, dass es für eine gute Erziehung einer gewissen inneren Reife bedarf. Häufig besitzen Eltern diese jedoch nicht, weil emotionale Grundbedürfnisse in ihrer Kindheit nicht erfüllt wurden. In seinem Buch „Kind, du machst mich wahnsinnig!: Wie uns in der Erziehung unsere eigenen Muster in die Quere kommen - Trigger-Situationen erkennen, verstehen und auflösen“ (Heyne Verlag) gibt der Mediziner Eltern deshalb Übungen an die Hand, mit denen sie ihren eigenen inneren Mangel aufspüren können. Eine Übung daraus verriet er unter anderem im Interview mit 24vita.de.
Gibt es genug Sicherheit (Bindung, Anm. Red.) oder Autonomie? Habe ich auch klare Grenzen bekommen? Durfte ich mich ausdrücken (Freiheit, Anm. Red.), aber auch spielen (Spiel, Anm. Red.), wenn ich das wollte? In der Behandlung von Menschen mit Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen stellt sich häufig heraus, dass den Betroffenen hier etwas fehlt. Und wenn dann meine Patientinnen und Patienten gleichzeitig schon Eltern waren, habe ich es ganz häufig erlebt, dass sie die Fehler aus ihrer eigenen Erziehung bei ihren eigenen Kindern fortgeführt haben. Dass es diesen Lerneffekt gibt: So wie ich das gelernt habe, gebe ich das weiter. Und man hinterfragt das nicht wirklich.
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Das ist jedoch ganz häufig etwas, was aus einer Angst der eigenen Eltern gelernt wurde. Ich bin jetzt Mitte 40 und habe Kinder im Schulalter. Meine Mutter ist Anfang, Mitte 70 und sie ist natürlich in einer anderen Zeit aufgewachsen, in der Nachkriegszeit. Die Rahmenbedingungen waren damals natürlich ganz andere und diese Generation hat häufig noch Leid erfahren, was natürlich auch die Erziehung geprägt hat. Und obwohl sich die Rahmenbedingungen ja deutlich geändert haben, gibt man unter Umständen die Sorge und Angst, die man vielleicht durch die eigenen Eltern erlebt hat, weiter an die eigenen Kinder. Das ist ein Punkt, wo man wirklich sagen kann: Ist das denn notwendig? Ist es wirklich noch das, was meine Tochter oder mein Sohn jetzt braucht? Oder ist es eigentlich meine Sorge, meine Angst, die ich gerade im Fokus habe und nach der ich mich verhalte?
Dann wäre wichtig zu sagen: ‚Mensch, jetzt ne halbe Stunde Vokabeln lernen, das gehört dazu, das ist nicht schlimm.‘ Ein anderes Kind braucht vielleicht eher ein bisschen Motivation um Kontakt zu Gleichaltrigen aufzubauen, dann könnte man sagen: ‚Geh doch mal und klingel beim Nachbarskind. Vielleicht möchtest du spielen.‘ oder ‚Du schaffst das schon im Fußballverein.“ Also braucht dieses Kind vielleicht ein Cheerleading in die Richtung. Wichtig ist, dass man als Eltern schaut, was braucht jedes Kind für sich ganz individuell und das dann anpasst. Was eben auch bedeuten kann, dass es für unterschiedliche Kinder unterschiedliche Regeln gibt.
In meinem Buch sind kleine Übungen eingebaut. Am Anfang schlage ich vor, dass man selbst eine Übung macht, wo man sich mit einem Bild von sich selbst als kleiner Junge oder kleines Mädchen hinsetzt und noch mal schaut: Wie war ich eigentlich früher, was habe ich gebraucht? Sind meine emotionalen Grundbedürfnisse gut befriedigt worden oder eben nicht? Damit man auch weiß, wo habe ich vielleicht einen Mangel. Wie kann ich den Mangel, den ich habe, beheben? Wie kann ich mich verhalten? Was kann ich tun, damit es mir wieder besser geht? Und gleichzeitig auch: Wie habe ich es im Blick, dass meine Kinder auch diese unterschiedlichen Bereiche gut hinbekommen. Andererseits rate ich den Eltern aber nicht alles, was man macht, zu hinterfragen. Dann kommt man ja aus dem Hinterfragen nicht mehr heraus und ist dann in einer total verkopften theoretischen Blase, die einfach nicht funktioniert.
Stattdessen kann man sich aber ein bis zwei Mal pro Woche bewusst ein paar Minuten Zeit nehmen, um zu schauen: Wie läuft das eigentlich gerade? Muss vielleicht das ältere Kind mehr lernen? Und wie kriegen wir das als Eltern besser hin? Aber achte ich auch noch darauf, dass sich das Kind austoben darf und genug Spielzeit da ist? Kinder brauchen klare Regeln, die auch gelten. Damit einerseits das Grundbedürfnis nach Grenzen und andererseits das nach Autonomie gestillt wird. Es sollte dabei alles in einem sicheren Rahmen stattfinden. Das brauchen Kinder und Menschen allgemein. Eine sichere Basis, dass man einfach weiß, wie sich mein Gegenüber verhalten wird. Das bedeutet nicht, dass man zum Beispiel nicht schimpft. Sicherheit bedeutet auch, dass das Kind weiß, wenn es Quatsch gemacht oder Mist gebaut hat, dann bekomme ich eine Strafe. Sicherheit für Kinder bedeutet, dass das Verhalten der Eltern gut vorhersehbar ist.
Bei den Übungen im Buch schaut man immer: Hat die aktuell schwierige Situation in der Erziehung etwas mit mir, vielleicht meiner Partnerschaft und meiner Biographie oder mit dem Kind zu tun? Egal wie alt die Kinder sind, sollten Eltern von Anfang an auch ihr eigenes Verhalten kritisch hinterfragen. Ich glaube, jeder, der Kinder hat, kennt die Situation, dass man vielleicht zu gestresst nach Hause kommt, weil auf der Arbeit irgendwas nicht gut gelaufen ist oder man Schwierigkeiten in der Partnerschaft hat. Man ist vielleicht gerade geblitzt worden. Manchmal kommt man deswegen dann angespannt nach Hause und reagiert ungerecht. Es kommt dann plötzlich die Tochter auf einen zugerannt und möchte einem ein schönes Bild zeigen, das sie gemalt hat.
Man schnauzt das Kind dann an: „Ich habe jetzt keine Zeit“ oder „Das geht jetzt nicht.“ Wichtig wäre, wenn man das merkt – auch wenn es ein paar Stunden später ist –, doch noch mal zu sagen: „Es tut mir leid. Entschuldigung, es hatte nichts mit dir zu tun.“ Auch hier können sich Eltern immer wieder kritisch beäugen und sich hinterfragen: Passt das, was ich gemacht habe? Das ist das, was meiner Meinung nach für die Erziehung unserer Kinder total wichtig ist. Das ist mir durch die Rückmeldung von Patienten klar geworden, die gesagt haben: „Seit dem läuft‘s runder.“ Wichtig ist auch, diesen Druck rauszunehmen, dass man gar keine Fehler machen darf. Stattdessen sollte man die Haltung haben: Fehler machen ist eher die Regel als die Ausnahme. Mit Fehlern sollte man dann gut umgehen und den Kindern gegenüber möglichst transparent sein.
Aber dass es emotionale Grundbedürfnisse gibt, dass jeder eine gewisse Sicherheit braucht, dass jeder auch klare Grenzen braucht, dass jeder auch sowas wie Spiel, Spontanität und Spaß benötigt. In meiner Arbeit als Psychotherapeut und Psychiater habe ich nämlich die Erfahrung gemacht, dass selbst Patienten, die vielleicht eher narzisstisch oder zwanghaft sind, sagen: ‚Ach nein, ich brauche das nicht, ich brauche gar nicht spielen. Ich brauche nur die Arbeit.‘ Wenn man das einmal durchdrungen hat, dass das doch wichtig ist und total hilfreich sowohl für einen selbst, als auch im Kontakt mit den Kindern.
Dieser Beitrag beinhaltet lediglich allgemeine Informationen zum jeweiligen Gesundheitsthema und dient damit nicht der Selbstdiagnose, -behandlung oder -medikation. Er ersetzt keinesfalls den Arztbesuch. Individuelle Fragen zu Krankheitsbildern dürfen von unseren RedakteurInnen leider nicht beantwortet werden.
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