Nach den Gewaltszenen beim Polizei-Einsatz in Lützerath wird viel diskutiert: Sind die Beamten zu weit gegangen? NRW-Innenminister Herbert Reul hat eine klare Meinung – und unterstellt den Aktivisten eine „bewusste Strategie“.
Düsseldorf – Die Handabdrücke sind noch deutlich sichtbar: Am Tag zuvor hatten sich Klimaaktivisten an die Scheiben neben dem Eingang zum NRW-Innenministerium geklebt, aus Protest gegen die Räumung des Braunkohledorfs Lützerath am RWE-Tagebau Garzweiler II. Während Polizisten sie mühsam von der Scheibe ablösten, forderten die Demonstranten den Rücktritt von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Ihr Vorwurf: Er sei für Polizeigewalt in Lützerath verantwortlich.
Man könnte meinen: Für Herbert Reul müssen die letzten Tage von Lützerath anstrengend gewesen sein. Rücktrittsforderungen, Demos direkt vor seinem Ministerium und die laute öffentliche Diskussion um die Frage: Ist die Polizei bei dem Einsatz in Lützerath, den er verantwortet, zu weit gegangen? Im Interview mit 24Rhein.de von IPPEN.MEDIA ist ihm nichts anzumerken. Er sitzt entspannt auf der zerknautschten Ledergarnitur in seinem Büro, plaudert launig über den plötzlichen Wintereinbruch und wird erst ernst, als es um die Vorwürfe gegen seine Polizeibeamten geht.
Das Wort wird im Moment häufig als pauschaler Vorwurf gegen die Polizei verwendet. Angeblich hat die Polizei insgesamt beispielsweise in Lützerath übermäßig Gewalt angewandt. So undifferenziert ist das sicher falsch, weil die Polizei unter bestimmten Voraussetzungen Gewalt anwenden darf und muss. Das staatliche Gewaltmonopol bedeutet, zur Durchsetzung von Recht und Gesetz notfalls auch Gewalt anzuwenden. Polizisten müssen je nach Situation Zwangsmittel einsetzen, um andere und sich selbst zu schützen. Allerdings muss das ausnahmslos immer verhältnismäßig passieren.
War die Gewaltanwendung vonseiten der Polizei in Lützerath in Ihren Augen denn verhältnismäßig?
Grundsätzlich ja. Aber bei über 3000 Polizisten, die im Einsatz waren, kann ich darauf natürlich nicht pauschal antworten. Deswegen wird jeder einzelne Fall, bei dem es den begründeten Verdacht gibt, dass Polizisten unverhältnismäßig Gewalt angewandt haben, untersucht.
Haben Sie solche Fälle schon entdeckt?
Ja, bislang sind uns fünf Fälle bekannt, bei denen ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Da wird jetzt genau ermittelt.
Selbst schuld am Schlagstockeinsatz? „Das haben dann die Demonstranten zu verantworten. Ja.“
Was ist da genau passiert?
Dazu kann ich derzeit noch nichts sagen. Erstens sind das laufende Ermittlungen. Und zweitens sind diese Videos ja meist nur Schnipsel. Da kommt es dann darauf an, zu untersuchen: Was war vorher? Was war nachher? Vielleicht gab es vorher einen Angriff auf den Polizisten. Oder der Polizist muss verhindern, dass Aktivisten zu nah an die Abbruchkante des Tagebaus kommen, wo sie abstürzen könnten.
Das heißt, die Demonstranten an der Tagebaukante sind selbst schuld, wenn Polizisten Schlagstöcke oder Pfefferspray gegen sie eingesetzt haben?
Die Menschen wurden mehrmals vehement aufgefordert, bestimmte Bereiche vor Lützerath zu verlassen, was sie nicht getan haben. Wenn das alles nichts bringt, dann muss die Polizei irgendwann zu Zwangsmitteln greifen und das Recht durchsetzen. Das haben dann die Demonstranten zu verantworten. Ja.
Angeblich hunderte Verletzte in Lützerath: „Bewusste Strategie“
Sie haben 2017 in NRW die Kennzeichnungspflicht für Polizisten abgeschafft. Behindert das nicht die Möglichkeit für Betroffene, einzelne Polizisten anzuzeigen?
Nein. Mir ist kein Fall bekannt, bei dem wir einen Bereitschaftspolizisten nicht ermitteln konnten, wenn es solche Anzeigen gab. Auch wenn wir keine individuelle Kennzeichnungspflicht mehr haben, stecken die Polizisten ja nicht völlig anonym in ihren Uniformen. Es gibt nach wie vor eine sogenannte taktische Rückenkennzeichnung. Wir können immer jede Einsatzkraft zuordnen.
Laut Aktivisten gab es lebensgefährlich Verletzte in Lützerath. Das konnte sich im Nachgang nicht bestätigen lassen. Was glauben Sie: Wussten die es nicht besser oder sind die Behauptungen Strategie?
Ich unterstelle, dass eine bewusste Strategie dahintersteckt, um dafür zu sorgen, dass die Polizei schlecht dasteht. Einzelne Aktivisten haben offenbar Unwahrheiten erzählt. Die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe hat dadurch insgesamt sehr gelitten.
Herbert Reul zum Wort „Klimaterroristen“: „Das ist Quatsch“
Wie finden Sie das Wort “Klimaterroristen”?
Da halte ich gar nichts von. Das ist Quatsch. Wenn junge Menschen sich politisch engagieren, für welches legitime Anliegen auch immer, ist das prima. Aber auch junge Leute müssen wissen, dass es in einem demokratischen Rechtsstaat Regeln gibt. Und ich finde, dass sie auch die Haltung haben sollten, dass sie vielleicht nicht immer nur recht haben.
In Lützerath haben Menschen Steine und Feuerwerkskörper auf Polizisten geworfen. Manche ziehen Vergleich zwischen ihnen und den Menschen, die an Silvester Polizisten und Rettungskräfte attackiert haben. Wie finden Sie den Vergleich?
Wenn jemand auf Polizisten oder Rettungskräfte Raketen, Böller oder Molotowcocktails schmeißt, dann ist mir egal, wer das ist. Ob das eine Frau, ein Mann, ein junger oder alter Mensch, ein Inländer oder ein Ausländer ist: Das ist nicht zu akzeptieren.
Nach Silvester-Krawallen: Innenminister Reul will „gesetzlich nachschärfen“
Schon an Silvester 2021/22 gab es Attacken auf Einsatzkräfte. Beispiel Essen: Bis heute gab es kein Urteil. Woran liegt das?
Wir haben häufig ein Problem, die Täter zu erkennen. Wenn Taten aus Gruppen heraus passieren, ist es schwer, einen Verdächtigen zu identifizieren. Gerichte brauchen aber Namen und Beweise. Auch gesetzlich könnte man möglicherweise nachschärfen, um diejenigen, die als Gruppe einen Schutzwall um die Täter bilden, davon konsequenter abzuhalten oder aber sie dafür strafrechtlich verantwortlich zu machen.
Zwei Hotspots an Silvester waren in NRW Duisburg und Essen. Sehen Sie Zusammenhänge mit kriminellen Clanstrukturen in den Städten?
Das kann ich nicht ausschließen, aber ich kann es auch nicht nachweisen.
Das Präventionsangebot “Kurve kriegen” im Ruhrgebiet für junge Menschen aus kriminellen Clanstrukturen wird sehr schlecht angenommen. Woran liegt das?
Die reine Teilnehmerzahl mag klein erscheinen, ist in Wahrheit aber ein Riesenerfolg. Denn manche Menschen leben aus ihrer Sicht sehr gut in den kriminellen Clanstrukturen. Es gibt ein Einkommen, eine schützende Familie. Und bei dem Angebot, das wir den jungen Leuten und ihren Familien machen, wird von ihnen erwartet, dass sie das in gewisser Weise aufgeben. Das ist fast unmöglich. Ich bedaure das und finde das sehr schade. Wir können sie nicht zwingen, aber werden immer wieder versuchen, diese Menschen zum Ausstieg aus kriminellen Clanstrukturen zu bewegen.
Kritiker sagen, Ihre Null-Toleranz-Politik beim Thema Clans stigmatisiert Menschen, nur weil sie einen bestimmten Namen tragen. Was entgegnen Sie?
Ich habe von Anfang an gewusst, dass diese Gefahr besteht. Wenn man das aber zur Grundlage seiner Entscheidung macht, ist das unverantwortlich. Ich habe mich entschieden, konsequent gegen Clan-Kriminalität vorzugehen - trotz möglicher Risiken. Wir machen die Namen der Familien nicht öffentlich. Aber wenn ich ein Problem lösen will, muss ich das Problem präzise beschreiben. Die Verfolgung von Kriminellen ist keine Diskriminierung, sondern gesetzlicher Auftrag der Polizei.
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