Talk bei Anne Will
„Sie reden wie Blinde von Farbe“: Oberst watscht Politik für Bundeswehr-Chaos ab
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Die Bundeswehr pfeift trotz Sondervermögen aus dem letzten Loch – und das in Kriegszeiten. Bei Anne Will sorgt das für Zoff. Ein Oberst wurde nun deutlich.
Berlin - Die Zeit des Friedens und Wohlstandes in Europa ist vorbei. Da ist sich die Friedensforscherin Prof. Nicole Deitelhoff am Sonntagabend im ARD-Talk von Anne Will ziemlich sicher. SPD-Abgeordneter Ralf Stegner, der als Sprecher des linken Flügels seiner Partei gilt, hatte gerade noch angesetzt, die Regierungspolitik mit der Wahrung dieser Werte für die zukünftigen Generationen zu rechtfertigen, als ihm die Wissenschaftlerin einen Strich durch die Argumentationslinie macht. Es sei die Wahrheit, dass wir „unseren Kindern und Enkelkindern auch jetzt schon sagen müssen: Es hat sich verändert!“ In Bezug auf eine sichere, stabile Welt ist sich Deitelhoff sicher: „Die werden nicht so aufwachsen!“
Anne Will: Im ARD-Talk zur Zeitewende dreht Bundeswehr-Oberst Wüstner ordentlich auf
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, stimmt dem vollkommen überzeugt zu. Wüstner wirft im Laufe der ARD-Sendung Regierung und Parlamentariern vor, es würde beiden im Hinblick auf die Zeitenwende bei der Bundeswehr an politischem Willen fehlen. Unter Zustimmung der anderen Gäste bei Anne Will stellt Wüstner die Frage, warum Politik „nicht offensiver in die Kommunikation“ gehe, die Menschen besser vorbereite und deutlich benenne, in welchem Politikfeld es in Zukunft schwierig werde.
Stegner schaut zunächst erstaunt, dann ungläubig: „Mit Reden allein ist es nicht getan“, befindet er schließlich. Die Situation sei auch für die Politik eine „Herausforderung“, die AfD sei bereits „Ostdeutschlands stärkste Kraft“, so Stegner. Man müsse darauf achten, dass sich Teile der Gesellschaft nicht „abgehängt“ fühlten und mahnt auch den politischen Wandel in den USA, der bei einer Wiederwahl Donald Trumps nicht ausgeschlossen werden könne.
„Anne Will“ - diese Gäste diskutierten mit:
- Ralf Stegner (SPD) - MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
- Gerhart Baum (FDP) - Bundesinnenminister a. D.
- André Wüstner - Vorsitzender des Bundeswehrverbandes und Oberst
- Prof. Nicole Deitelhoff - Programmbereichsleitung u.a. für Internationale Politik am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
- Prof. Hedwig Richter - Historikerin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München
FDP-Politiker Gerhart Baum sieht in ARD Freiheit bedroht: „Die Welt ist aus den Fugen geraten!“
Eigentlich geht es bei Anne Will um die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Der Titel der Sendung des Polit-Talks im Ersten lautet: „Rüsten für den Frieden – Welche Lehren zieht Deutschland aus der Zeitenwende?“ Doch in der in Teilen hitzigen Diskussion wird schnell klar, dass die Probleme tiefer liegen. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, befindet das 90-jährige FDP-Polit-Urgestein Gerhart Baum, der als 12-Jähriger die Bombardierung Dresdens miterlebte - oder wie Anne Will es ausführt - „weiß, wie Krieg sich anfühlt“.
Auch Baum, der trotz seines hohen Alters politisch engagiert ist, erlebt die derzeitige weltpolitische Veränderung als „intensivsten Epochenbruch“ seit 1945. „Die Summierung all dieser Herausforderungen“, so Baum, gefährde die freie Weltordnung und die westliche Demokratie wie noch nie zuvor. Mit Putins Angriff auf europäischem Boden und der erstarkten Rolle Chinas gebe es zum ersten Mal einen direkten Angriff auf „unser Wertesystem“.
Baum kritisiert, dass es ein Manko sei, dass Europa es bislang versäumt habe, eine einheitliche Außenpolitik zu formulieren. „Die Rolle Europas“ in der neuen Weltmächteordnung, mit den zwei großen Kräften USA und China, sei unklar. Baum: „Wo ist eine Europa-Politik, um das Gewicht des Kontinentes in die Welt zu tragen?“
SPD-Mann Stegner attestiert ein „zerstrittenes“ Europa „Problem im eigenen Laden“
Stegner versucht zunächst die Frage auf Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock abzuschieben, gesteht dann aber auch ein: „Wir versuchen es ja, doch Europa ist zerstritten“, man hätte „Probleme im eigenen Laden“. Auch die ehemalige westliche Weltmacht USA sei inzwischen international angeschlagen: „Dass der Trump das Capitol stürmen lässt, hätte man sich auch nicht denken können“, so Stegner. Daher könne man nicht einfach mehr „mit westlichen Werten kommen“.
Deitelhoff sieht die Ursachen für die inzwischen international bröckelnde Glaubwürdigkeit des Westens in der Interventionspolitik der letzten Jahrzehnte, die die „Glaubwürdigkeit“ eines „liberalen Westens“ ziemlich zerstört habe. Nach Meinung der Expertin sei das teilweise Zurückhalten der Drittstaaten auch in Bezug auf Russland damit zu erklären: „Weil sie sagen: Was Russland da macht, ist nicht in Ordnung, aber was der Westen die letzten drei Jahrzehnte gemacht hat, ist es genauso wenig!“ Viele Staaten wollten daher „eigentlich mit beiden“ nichts zu tun haben. Die große Herausforderung für den Westen sei es nun, Partnerschaften anzubieten, „die für den globale Süden so attraktiv sind, dass sie sich wieder dem Westen zuwenden“.
Oberst kritisiert Politiker wegen Bundeswehr: „Alle reden von Sondervermögen, wie die Blinden von Farbe!“
Wie langsam die Mühlen der deutschen Politik mahlen, macht Oberst Wüstner mit Hinblick auf den Ukraine-Krieg deutlich: Bereits 2014, als Russland die Krim annektierte, sei darauf hingewiesen worden, dass die Bundeswehr Unterstützung brauche, so Wüst, doch stattdessen sei es beim Business as usual geblieben: „Man wollte es nicht sehen.“ Auch jetzt sei in weiten Teilen Unkenntnis und Desinteresse vorherrschend: „Alle reden vom Sondervermögen wie die Blinden von der Farbe“, so der Oberst. Die Verfahren dauerten zu lange. So soll die Nachbeschaffung für die Panzerhaubitzen, deren Lieferung an die Ukraine bereits im vergangenen Jahr beschlossen worden war, erst jetzt im Haushaltsausschuss beschlossen werden.
Was ihn „wahnsinnig“ mache, sei, wie vielen er „im Parlament erklären muss, wozu sie selbst zugestimmt“ hätten. Viele Politiker würden „nicht einmal verstehen“, wofür das Geld genau eingesetzt werde, so Wüstner. Auch Deitelhoff und Baum bestätigten die Problematik. Baum führt das auf die typisch deutsche Mentalität nach den Erfahrungen aus Hitler-Deutschland zurück: „Sich rauszuhalten, das ist der deutsche Sonderweg“, so Baum. Deitelhoff führt differenzierter aus, Verteidigung sei in den Wohlstandsjahren des Westens als etwas „Nachrangiges“ definiert worden, man hätte sich als Zivilmacht interpretiert. „Bis sich diese Einstellung wandelt“, so schätzt Deitelhoff, dauere es noch.
Fazit des „Anne Will“-Talks in der ARD
Als der Bundeswehr-Oberst Wüstner die mangelnde politische Kommunikation bezüglich der Krisen und Probleme der Zeit kritisiert, reagiert Anne Will überrascht: „So gut wie jeden Sonntag“, so die Moderatorin, werde doch hier bei ihr, über eben diese Probleme geredet und debattiert. Diesem Vorsatz wird Anne Will mit der aktuellen Sendung gerecht. Tatsächlich wird offen angesprochen, was schlecht läuft. Aufrüttelnd ist die Sendung. Was fehlt, ist ein positiver Ausblick. Es entsteht der Eindruck nach einer ausweglosen Lage, bei der kaum noch was rumzureißen sei. Wenn die Sendung aufrütteln soll, geht der Schuss daneben. (Verena Schulemann)