Tagebau Garzweiler II

Was jetzt aus den verlassenen Geisterdörfern bei Lützerath wird

David Dresen und Marita Dresen vor ihrem Haus in Kuckum bei Lützerath
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David Dresen und Marita Dresen kämpfen seit Jahren für den Erhalt der fünf Dörfer bei Lützerath am Tagebau Garzweiler II. Das gelbe Kreuz ist zum Symbol des Protests geworden.

Die meisten Einwohner haben die Dörfer um Lützerath, die abgerissen werden sollten, verlassen. Doch allmählich kehrt das Leben zurück. Ein Zukunftsplan hat eine ganz persönliche Geschichte.

Erkelenz – Vielleicht macht ja mal jemand einen Kinofilm aus der Geschichte über die Menschen, die am Tagebau Garzweiler II leben. Oder eine Netflix-Serie. Genug Drama bietet der Stoff um die fünf kleinen Dörfer, die sich gegen den Abriss durch den Energiekonzern RWE wehren, allemal. David gegen Goliath. Der Film würde dann wahrscheinlich mit dem großen Dorffest enden, die Dörfer sind gerettet, alle sind glücklich. Nur: Im echten Leben geht es ja immer weiter, auch nach dem Freudenfest.

Lützerath muss weichen, doch fünf Dörfer am Tagebau Garzweiler bleiben

Das Fest gab es wirklich in Kuckum, als klar war: Das Dorf wird genau wie die Nachbarorte Keyenberg, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich nicht abgerissen. Darauf haben sich Bund, Land und RWE im Rahmen des NRW-Kohleausstiegs 2030 geeinigt. Dafür haben viele Dorfbewohner jahrelang mit viel Einsatz gekämpft. Nur Lützerath, das sechste Dorf, muss weichen, damit RWE die Braunkohle darunter abbaggern und den Abraum für die Rekultivierung nutzen kann.

Vehement wurde der Ort am Tagebau Garzweiler von Aktivistinnen und Aktivisten besetzt, aber die Lützerath-Räumung ist nun abgeschlossen. Bei der Räumung kam es immer wieder zu Gewaltszenen zwischen Polizei und Klimaaktivisten - später entbrannte eine Debatte um Polizeigewalt.

RWE wollte die Orte abreißen – nun sind 90 Prozent der Einwohner weggezogen

In den Dörfern, die bleiben, ist nun aber noch lange nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Denn fast 90 Prozent der Einwohner sind längst in Neusiedlungen umgezogen. Die meisten haben ihre Häuser zu günstigen Konditionen an RWE verkauft. In Kuckum zu Beispiel sind von den einst knapp 500 Einwohnern aktuell noch etwa 40 übrig. Familie Dresen gehört zu denen, die geblieben sind. „Viele haben gesagt: Ihr seid bekloppt, wenn ihr hier bleibt“, sagt Marita Dresen.

Tagebau Garzweiler: Warum ganze Dörfer abgerissen werden

► 1983 entstand der Braunkohlentagebau Garzweiler als Zusammenschluss der schon existierenden Abbaufelder Frimmersdorf-Süd und Frimmersdorf-West. Der Energiekonzern RWE baut hier pro Jahr 35–40 Millionen Tonne Braunkohle ab.

► Die Braunkohle, die für die Energiegewinnung in Kohlekraftwerken verwendet wird, liegt manchmal auch unter Ortschaften. Wenn es zur Sicherung der Energieversorgung notwendig ist, müssen die Ortschaften weichen. Die Einwohner werden dann umgesiedelt, die Dörfer abgerissen.

► Die fünf Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath am Tagebau Garzweiler sollten auch zerstört werden. Doch im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen NRW-Landesregierung wurde beschlossen, dass die Orte stehen bleiben.

► Lützerath hingegen wurde im Januar 2023 geräumt und abgerissen.

Ihre Familie lebt seit Generationen in dem Ort, ist tief verwurzelt mit der Geschichte. Weggehen war nie eine Option. Obwohl immer klar war, dass die Heimat wohl irgendwann abgerissen wird. Sohn David kennt es gar nicht anders. „Für mich war das Gefühl da: Das ist nicht für ewig“, erzählt der 31-Jährige, der sich mit der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ jahrelang für den Erhalt der Orte eingesetzt hat.

Gemeinschaften in den Dörfern bei Lützerath sind auseinandergerissen

Doch in Kuckum und den anderen vier Dörfern bei Lützerath wird es nie wieder so sein, wie es mal war. Viele Häuser stehen leer, die Dorfgemeinschaften sind auseinandergerissen – und auch Familien: Oft ist ein Teil der Familie in die neue Siedlung gezogen, der andere geblieben. Das führt bisweilen zu Konflikten.

Und das Leben in den Orten ist jetzt von neuen Merkwürdigkeiten geprägt. Nachts sind oft Metalldiebe in den fast verlassenen Dörfern unterwegs. „Da hört man es Hämmern und Klopfen und weiß: Die holen wieder Kupferrohre aus den Wänden“, erzählt Marita Dresen. Dachrinnen seien auch so ein Klassiker, sagt Sohn David.

Demenzkranker Vater stand mit Mistgabel vor der Tür: „Die Bagger kommen“

Erst allmählich kehrt hier und da wieder mehr Leben ein. In Kuckum etwa wohnen jetzt Geflüchtete aus der Ukraine, zumindest vorübergehend. Und die Dorfgemeinschaft „Kultur-Energie“ plant unter anderem Kulturzentren, betreutes Wohnen und Orte für Menschen mit Demenz. Für Marita Dresen hat das eine ganz besondere Bedeutung. Ihr Vater hatte Demenz. „Als immer klarer wurde, dass Kuckum abgerissen wird, ist die Krankheit sehr schnell vorangeschritten“, erzählt sie. Manchmal habe er mit der Mistgabel vor der Tür gestanden und „Da kommen die Bagger“ gerufen.

In diesem Jahr ist der Vater gestorben. Einen Gottesdienst in der katholischen Dorfkirche gab es nicht – die Katholische Kirche hat das nicht erlaubt, weil das einst sakrale Gebäude inzwischen entweiht ist. „Dabei haben die Menschen aus dem Dorf diese Kirche mitgebaut, die Bänke finanziert und die Fenster“, sagt Marita Dresen, deren Vater sehr aktiv an der Gemeindearbeit beteiligt gewesen sei. Den Glauben an die Kirche habe sie deshalb verloren. Immerhin konnte er in Kuckum beerdigt werden. Nicht selbstverständlich, denn immer noch werden Gräber umgebettet – obwohl das Dorf erhalten bleibt.

Der Friedhof von Kuckum: Regelmäßig werden Gräber werden immer noch umgebettet – obwohl der Ort erhalten bleibt.

Es kehrt wieder mehr Leben in die Tagebau-Dörfer um Lützerath

Doch jetzt blicken sie in die Zukunft in Kuckum, Keyenberg, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich. Die ersten Bewohner, die weggegangen sind, denken darüber nach, ihre Häuser zurückzukaufen. Dann werden sie vielleicht neue Dörfer vorfinden, mit Platz für neue Wohngemeinschaften, den es vorher nicht gegeben hat. (pen)

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